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Suq al-Qattanin - wo Stoffe, Mythen und Legenden sich weben - Textilmetropole

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Vom Glanz der Textilmetropole zur Wandelhalle des Handels

Webstuhl (Mremma). Foto: Eberhard Hahne

Suq al-Qattanin in der der Altstadt von Fès bewahrt noch immer den Glanz seiner Aura unter den historischen Märkten der geistigen Hauptstadt Marokkos, auch wenn sein Name heute nur noch als Zeuge einer Epoche gilt, in der die Spinnerei- und Webereikunst erblühte und ihre Produkte an Stoffen und fertiger Kleidung nach Afrika, in den Orient und nach Südeuropa exportierte. Einst war dieser Markt eine Perle in einer Kette von Handelsplätzen, die durch die Textilproduktion verbunden waren und Fès zu einem bedeutenden Anziehungspunkt machten, den Händler und Handwerker aus fernen Ländern aufsuchten.

Fès galt als führendes Zentrum für Spinnerei und Weberei nicht nur in der islamischen Welt, sondern in der damals bekannten Welt insgesamt. Im Mittelalter, insbesondere im 13. und 14. Jahrhundert, verfügte Fès über zahlreiche Werkstätten und Häuser, die auf Stickerei, Stoffverzierungen, Knotenarbeiten, Spinnerei, Weberei sowie das Färben von Wolle, Baumwolle und Seide spezialisiert waren. Auch gab es Häuser, die ausschließlich der Aufzucht von Seidenraupen dienten, um Rohseide zu gewinnen, welche in verschiedenen Handwerkszweigen Verwendung fand.

Fès behielt seine führende Rolle in der Textilproduktion in der westlichen islamischen Welt bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, als europäische Textilien zunehmend die Märkte der islamischen Welt und Afrikas eroberten. Dennoch blieb der Suq al-Qattanin bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein wichtiger Ort für den Erwerb von Stoffen und Rohbaumwolle.

Mit dem Rückgang des Baumwollhandels setzte jedoch ein Wandel ein, der auch das Erscheinungsbild des Marktes veränderte. Allmählich entwickelte er sich zu einem westlichen Tor zu den Handelsplätzen im Stadtzentrum. Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts beherbergte der Markt große Handelshäuser und Vertretungen europäischer Handelsfirmen, von denen viele von Juden geführt wurden. Unter ihnen befanden sich auch marokkanische Vertreter, wie etwa Benjelloun al-Qasa, der als Handelsvertreter in Manchester tätig war und von dort verschiedene Waren wie Stoffe, Zucker und Kerzen importierte. Der Markt war auch Standort mehrerer internationaler Banken und beherbergte die erste europäische Apotheke in der gesamten Altstadt, die dem Franzosen Cirio gehörte. Zudem gab es hier große Geschäfte für den roten Fès-Hut (Tarbusch) und für schwarze, weiche Lederpantoffel (Rayhiyat الريحيات), die Frauen aus Trauer um den Verlust Andalusiens trugen.

Neben diesen vielfältigen Handelsaktivitäten gab es im Markt zahlreiche Werkstätten, die traditionelle Kleidung für Männer und Frauen fertigten, wie Kaftane und Djellabas. Der Markt behielt seinen Namen "al-Qattanin" in Bezug auf Baumwolle, ähnlich wie andere Märkte und Orte, die für textile Produktion bekannt waren.

Al Qissariya, die verwinkelte Einkaufgalerie in der Medina von Fes

Weitere Kleidungsstücke sind beispielweise die Mansuriya, Foqiya und Jabador in unterschiedlichen andalusischen Stilarten. Und weitere Märkte sind etwa Wadi as-Sawwafin, Zanqat al-Harrarin, Suq at-Tilis, Suq al-Hanbal, Mjadliya, Suq al-Haik, Suq as-Selham und die al- Qissariya, von denen viele bis heute verschiedene Arten von Textilien und Stoffen anbieten.

Spinnerei und Sklavenhandel

Eine besondere Verbindung bestand zwischen Suq al-Qattanin und dem alten Suq al-Ghazl, doch nicht nur durch den Handel mit Garn oder Stoffen, sondern auch durch eine ganz andere, düstere Aktivität: den Sklavenhandel. Dieser florierte in Marokko, bediente sowohl den Binnenmarkt als auch den Export nach Nordafrika, Europa und sogar Amerika. Erst 1923 verbot die französische Protektoratsverwaltung offiziell den Sklavenhandel und schloss die Märkte, doch der Handel setzte sich heimlich oder über Schmuggelrouten bis 1930 fort.

Im westlichen Teil des Suq al-Qattanin befindet sich eine Sackgasse und ein angrenzender Funduq, die beide noch heute den Namen "al-Berka" tragen, was "Niederknien" oder "Sich-niederlassen" bedeutet. In diesem Funduq wurden Sklaven und Sklavinnen untergebracht. Im benachbarten Durchgang befand sich das Haus von Abd ar-Rahman al-Qasri, einem der letzten Sklavenhändler von Fès, das denselben Zweck erfüllte. Hierher brachte man freie Männer und Frauen, die aus Schwarzafrika oder aus den südlichen Dörfern und Stämmen Marokkos verschleppt worden waren, oft während der "Zeit der Gesetzlosigkeit" (as-Siba), in der diese Gebiete nur nominell unter Kontrolle standen. Banden entführten Kinder und Frauen, um sie in städtischen Märkten oder an Privatleute zu verkaufen. Dabei machten sie keinen Unterschied zwischen Hautfarben - auch hellhäutige Muslime wurden versklavt.

Der Sklavenmarkt fand täglich im sogenannten Suq al- Ghazl - „Gesponnener Wolle“ - statt, der auch „al-Berka“ genannt wurde. Er öffnete zwischen dem Mittags- und dem Nachmittagsgebet und dauerte gelegentlich bis in die Dunkelheit. Dort wurden in öffentlichen Auktionen Schwarzafrikaner verkauft, die von Sklavenhändlern hergebracht worden waren, sowie andere, deren Herren sie aus unterschiedlichen Gründen loswerden wollten. Dies berichtet Roger Le Tourneau in seinem Werk Fes vor der Protektoratszeit.

Die Bezeichnung „Markt des Garns“ für den Sklavenmarkt erklärt sich daraus, dass am Vormittag vor dem Mittagsgebet tatsächlich gesponnene Wolle gehandelt wurde. Eine solche Benennung finden wir nicht nur in Fes, sondern auch in anderen Städten. Besonders bekannt ist der Suq al-Ghazl in Marrakesch, wo der Handel mit Sklaven und Sklavinnen sehr rege war - nicht zuletzt aufgrund der Nähe zur Sahara und den Ländern der Sahelzone. Auch in Rabat trug der Sklavenmarkt den Namen „al-Berka“. Auf diesen Handel in Fes hat auch der marokkanische Schriftsteller Abd al-Karim Ghallab in seinem Roman Dafanna al-Madi („Wir haben die Vergangenheit begraben“) hingewiesen.

Die Agentur für Entwicklung und Aufwertung der Stadt Fes hat dieses historische Funduq-Gebäude restauriert und für Besucher geöffnet. Historische Quellen konnten bislang jedoch nicht eindeutig den Zeitpunkt seiner Errichtung bestimmen. Obwohl der Name „Funduq al-Berka“ nur in einer einzigen Stiftungsurkunde (Habous-Register) aus der Zeit des Sultans Moulay Slimane erwähnt wird - die darauf hindeutet, dass das Gebäude bereits vor dem 18. Jahrhundert bestand - gilt es als wahrscheinlich, dass es im 16. Jahrhundert erbaut wurde.

Das Gebäude, das sich rechter Hand der Derb al-Berka befindet, erlebte im 20. Jahrhundert mehrere Nutzungswandel: Es beherbergte zunächst die Bank al-Maghrib, dann verschiedene andere Banken, später die Handwerkskammer, daraufhin ein Polizeirevier, und es wird derzeit für die Eröffnung als Museum für Münzen und historische Zahlungsmittel vorbereitet.

Baumwolle, Reinheit und Wasser

Suq al-Qattanin steht auch für Reinheit und Schutz. Im nordwestlichen Teil des Marktes befindet sich eines der berühmtesten historischen Bäder von Fès, Hammam ibn Ibad. Es wurde während der Herrschaft der Meriniden im 14. Jahrhundert errichtet und gilt als ein Meisterwerk marokkanisch-andalusischer Baukunst in all seinen Teilen. Der elegante Eingang führt zu zwei voneinander unabhängigen Badebereichen, einem für Frauen und einem für Männer.

Der Name geht auf Muhammad ibn Ibad an-Nafzi ar-Rundi zurück, der 1333 in der andalusischen Stadt Ronda geboren wurde. Er war ein Gelehrter der malikitischen Rechtsschule und gilt als der eigentliche Verbreiter und führende Theoretiker der Tariqa al-Sufiya al-Schadliya (الطريقة الصوفية الشاذلية) in Marokko. Er bereiste die großen Zentren seiner Zeit - Tlemcen, Marrakesch, Salé und Tanger - und ließ sich schließlich in Fès nieder, wo er 15 Jahre lang an der -Universität lehrte, predigte und seelsorgerisch wirkte, bis er 1390 starb.

Die Quellen geben keinen Hinweis darauf, weshalb dieser Hammam den Namen des Gelehrten ibn Ibad trägt. Wahrscheinlich nutzte er ihn regelmäßig zum Baden - schon allein wegen seiner Nähe zur al-Qrawiyyin -, auch wenn dies nicht der einzige Hammam in deren Umfeld war.

Wie viele historische Bäder blieb auch der Hammam ibn Ibad nicht von volkstümlichen Legenden verschont. Manche Badehäuser mied man aus Furcht, allein hineinzugehen - wegen der dort angeblich hausenden Dschinn und Ungeheuer. Zu diesen zählten der Hammam Jiyaf al-Blida oder Hammam az-Zebbala in im Fès Jdid, der im Volksglauben in besonderer Verehrung von Lalla Schafya stand, deren Grabstätte auf dem Hügel über der Thermalquelle von Moulay Yacoub thront. Badegäste suchten dort Schutz, riefen sie in besonderen Bittgebeten an oder ehrten andere Heilige - so wie im Hammam Moulay Idris oder im Hammam Sidi Ahmad ash-Schawi, die beide als gesegnet galten und deren Wasser heilende Kräfte zugesprochen wurden. Dem Hammam ibn Abbad sagt man eine besondere Eigenschaft zu: Das Volk glaubte an die wundersame Kraft seines Wassers zur Heilung von Hautkrankheiten. Es hieß, dass an jedem Samstag seine Quellen mit dem schwefelhaltigen Wasser der Thermalquelle von Moulay Yacoub gespeist würden, die westlich von Fes in einer Entfernung von rund 18 Kilometern liegt.

Eine mündliche Überlieferung berichtet, Ben Abbad habe sechzig Jahre lang an der Qarawiyyin gelehrt und gepredigt. Nach seinem Tod habe man in seinem Zimmer eine Truhe mit Geld gefunden, das er im Laufe seiner Predigten erhalten hatte. Er habe verfügt, dass mit diesem Vermögen ein Hammam als wohltätige Stiftung errichtet werde. Historisch wirft diese Erzählung jedoch Fragen auf, denn Ben Abbad wurde lediglich 59 Jahre alt (1333-1390). Der Historiker Abd al-Hadi at-Tazi berichtet außerdem von der 4. Säule rechts von der Sommer-Gebetsnische der Qarawiyyin, die angeblich von Ben Abbad eigenhändig beschriftet worden sei. Dieser Schriftzug galt als Schutzamulett gegen Augenkrankheiten: Wer an solchen Beschwerden litt, tauchte das geöffnete Auge ins Wasser, hob es dann zur Kachel empor und versuchte, die Inschrift zu entziffern - ein Vorgang, der mehrfach wiederholt werden sollte.

Eine bedeutende Zaouia mit reichem Erbe

Nordöstlich des Suq al-Qattanin, nur wenige Dutzend Meter vom Hammam ibn Abbad entfernt, öffnet sich ein kunstvoll geschnitztes und reich verziertes Holztor zur Zaouia Kettania. Sie gehört einer alteingesessenen Familie von Fes, deren Angehörige sich durch Gelehrsamkeit, Ansehen, Fleiß, Spiritualität, Erziehung und Einsatz im Kampf auszeichneten - Männer wie Frauen. Unter den Gelehrten dieser Familie ragt die Rechtsgelehrte Fadila bint Idris ibn at-Tai hervor. Die Familie ist seit Jahrhunderten für ihre tiefe Verwurzelung in den islamischen Wissenschaften bekannt - von Rechtslehre und Hadith über Sprach- und Koranexegese bis hin zum Sufismus - und gibt dieses Erbe bis heute weiter. Am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Zaouia Kettania zudem eine der politisch aktivsten Einrichtungen ihrer Art.

Dieses Gebäude ist die erste Niederlassung der Kettania in Marokko und wird „Große Zaouia“ genannt. Sie wurde 1855 im Suq al-Qattanin vom geistlichen Führer Muhammad ibn Abd al-Wahid al-Kattani (1819-1872) gegründet. Unter seinem Nachfolger Muhammad ibn Abd al-Kabir al-Kattani (1873-1909) entwickelte sie sich zu einem Zentrum politischer Aktivitäten und des Aufrufs zum Widerstand gegen koloniale Einmischung - nicht nur in Marokko, sondern in der gesamten islamischen Welt. Die Zaouia bot Gelehrten und Anführern aus dem östlichen Teil der islamischen Welt Zuflucht, die nach Fes kamen oder dorthin flohen - unter ihnen der Hadith-Gelehrte von Medina Ali ibn Zaher al-Watri, der jemenitische Gelehrte Muhammad ibn Ali al-Habashi, der pakistanische Gelehrte Abd al-Karim Murad und Khair ad-Din at-Tunisi, eine Schlüsselfigur der Reformbewegung im Osmanischen Reich.

Muhammad ibn Abd al-Kabir al-Kattani war ein Rechtsgelehrter, sufischer Denker und Dichter, der die französische Präsenz in Marokko ablehnte. Er gründete die Zeitung at-Ta'un („Die Pest“), die erste Zeitung, die je von einem Marokkaner in Fes herausgegeben wurde.

Rückkehr, Reformforderungen und Widerstand

Nach seiner Rückkehr aus der Pilgerfahrt und einer Reise in den Nahen Osten, wo er führende Gelehrte und Persönlichkeiten traf, besuchte al-Kattani auf dem Heimweg auch Marseille und Neapel und erlebte den industriellen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt Europas. Daraufhin forderte er den Sultan zu einer Reihe politischer Reformen auf, um der kolonialen Bedrohung zu begegnen. Dazu gehörten die Einführung von Verwaltungsreformen, einer Verfassung und gewählten Volksvertretungen. Er rief zum bewaffneten Widerstand und zur Vertreibung der Kolonialmächte auf und verfasste zahlreiche Schriften, die zur Bekämpfung der Besatzer aufriefen.

1908 nahm er am Kongress der marokkanischen Stämme in Meknes teil, wo er zwischen verschiedenen Stämmen vermittelte und sie auf den gemeinsamen Widerstand gegen die französische und spanische Kolonialmacht einschwor. Doch Differenzen mit Sultan Abd al-Hafiz über die Bedingungen des Treueids und die geforderten politischen Reformen führten dazu, dass der Sultan misstrauisch wurde. Er fürchtete den großen politischen Einfluss des Scheichs auf die Stämme, zumal sich die Kettania-Zaouias inzwischen in über hundert Orten in Marokko und im östlichen Mittelmeerraum verbreitet hatten, darunter Marrakesch, Meknes, Sale, Tetouan, Tanger, Rabat, Tlemcen und Sidi Bel Abbes. Besonders die Niederlassungen in Azemmour, Zaer und Rahamna spielten eine wichtige Rolle bei der Anfachung des bewaffneten Widerstands gegen die französische Kolonialmacht.

Al-Kattani stellte sich außerdem persönlich einer öffentlichen Debatte mit dem Rebellen al-Jilali az-Zarhuni, bekannt als Bu Hmara, der sich selbst als der erwartete Mahdi ausgab. Der Scheich widerlegte dessen Behauptungen in Vorträgen an dessen Anhänger.

Religiöse und politische Autorität

Das Haupttor zu Al- Qaraouine Moschee, Foto: Eberhard HahneAnhänger von Sultan Abd al-Hafiz warfen al-Kattani vor, eine „Kettania-Herrschaft“ errichten zu wollen. Der Sultan fürchtete, er könne - wie es in der marokkanischen Geschichte mehrfach vorgekommen war - auf Basis seiner religiösen Autorität auch politische Macht ausüben. In früheren Zeiten hatten manche Zaouias die politische Kontrolle über Marokko und Teile von al-Andalus und Nordafrika übernommen. Aus Sorge vor einem ähnlichen Szenario setzte der Sultan al-Kattani unter Druck.

1909 musste der Scheich Fes mit seiner gesamten Familie verlassen und suchte Zuflucht bei den Beni Matir-Stämmen im Atlas. Auf Betreiben des französischen Konsuls Gaillard entsandte der Sultan eine Militäreinheit, die ihn und seine Familie verhaftete. In einer halbstündigen Debatte vor dem Sultan, unterstützt von mehreren Gelehrten, verteidigte sich al-Kattani - ohne Erfolg. Er, seine Familie, darunter auch Frauen und Kinder, wurden inhaftiert.

Im März 1909 befahl Sultan Abd al-Hafiz, al-Kattani im Gefängnishof des Königspalastes von Fes vor den Augen seines Vaters, seines Sohnes und seines Bruders Abd al-Hayy al-Kattani mit zweitausend Stockhieben zu bestrafen. Noch bevor ein Viertel der Hiebe vollzogen war, verstarb der Scheich im Alter von nur 37 Jahren. Die Nachricht wurde geheim gehalten, er wurde heimlich beigesetzt, und sein Grab wurde beseitigt, um jede Spur zu tilgen.

Später bereute Sultan Abd al-Hafiz seine Tat und die Übergabe Marokkos an Frankreich. Der Gelehrte Ahmad al-Ghumari berichtet in seinem Manuskript Subhat al-Aqiq, dass der Sultan „seine Reue erklärte und seinen Glauben vor Scheich Muhammad ibn Jafar al-Kattani am Grab des Propheten erneuerte“. Muhammad ibn Jafar al-Kattani (1857-1927) war ein Rechtsgelehrter, Hadith-Spezialist, Historiker und eine herausragende Persönlichkeit dieser Familie, die seit Generationen Gelehrsamkeit pflegte. Er unterstützte den Rif-Widerstand unter Muhammad ibn Abd al-Karim al-Khattabi und galt als Zufluchtsort für die Kämpfer.

Blütezeit der Lehre

In jener Zeit gab es keine andere Zaouia in Fes, die es mit der Kettania aufnehmen konnte. Neben den Koranwissenschaften wurden hier alle religiösen und rationalen Wissenschaften gelehrt. Immer wieder studierte man die Werke von al-Bukhari und Muslim, den Muwatta, die Sunan von Abu Dawud, die Sammlung von at-Tirmidhi sowie die großen Werke des Sufismus wie „Ihya Ulum ad-Din“ von al-Ghazali, „Qut al-Qulub“ von Abu Talib al-Makki, „al-Futuhat al-Makkiyya“ von Muhyiddin ibn Arabi und die Schriften von ibn Ata Allah mit ihren Kommentaren. So wurde die Zaouia Kettania zu einem bedeutenden Zentrum der Gelehrsamkeit, das in kurzer Zeit viele Schüler und Besucher anzog.

Abd al-Hayy al-Kattani

Einer der letzten großen Gelehrten der Familie und Führer der Gemeinschaft war Abd al-Hayy al-Kattani (1884-1962). Er lehrte an der Qarawiyyin, an der Azhar-Universität, in der Umawi-Moschee von Damaskus, in Mekka und Medina sowie an der Sorbonne in Paris. Er beherrschte Rechtswissenschaft, Grundlagen des Rechts, Koranexegese, Hadith, Sufismus, Geschichte, Sprachwissenschaft und Rhetorik. Schon früh zeigte sich sein Talent: 1902 ernannte ihn ein königliches Dekret - im Alter von nur 18 Jahren - zu den ranghöchsten Gelehrten, die täglich Hadith am Grab von Idris I. vortrugen. Bereits fünf Jahre später erreichte er die höchste Rangstufe der Qarawiyyin-Gelehrten.

Sein Werk umfasst über 250 Werke, nach manchen Angaben sogar auf 500 in verschiedensten Disziplinen. Er war eine Autorität im Hadith-Wissen und gründete in Fes das „Haus des Hadith“. Geprägt wurde er auch durch das Leiden seiner Familie unter Sultan Abd al-Hafiz, insbesondere durch die Hinrichtung seines Bruders Muhammad ibn Abd al-Kabir vor seinen Augen. Darüber schrieb er das Buch „Was im Gedächtnis blieb aus den Tagen der Gefangenschaft“.

Als die französische Kolonialmacht Sultan Muhammad V. absetzte und dessen Cousin Muhammad ibn Arafa als Herrscher einsetzte, gehörte Abd al-Hayy zu jenen, die ibn Arafa den Treueid leisteten - möglicherweise als Vergeltung für den Tod seines Bruders. Dies brachte ihm breite Ablehnung in der Bevölkerung ein. Nach der Rückkehr von Muhammad V. und der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung wurden seine umfangreichen Besitztümer und seine Bibliothek konfisziert. Er verließ Marokko und lebte bis zu seinem Tod in Nizza, Frankreich. Dort wurde er auf dem muslimischen Friedhof beigesetzt. Gegner behaupteten später, er sei zum Christentum übergetreten - eine unbestätigte und wohl politisch motivierte Behauptung.

Legende, Poesie und Volksglaube

Im Suq al-Qattanin liegen Handel, Gelehrsamkeit und Legende oft nah beieinander. Wenige Schritte von der Zaouia entfernt zweigt eine kleine Gasse ab: Zqaq Lebghel, die "Gasse der Maultiere". Hier befand sich das erste Männergefängnis von Fès; Frauen wurden im alten Maristan Sidi Frej festgehalten. Fès Jdid besaß ein eigenes Gefängnis, doch die französische Kolonialverwaltung nutzte die Festung des Lichts (Borj an-Nur) nördlich der Stadt als provisorisches Gefängnis für Nationalisten und Widerstandskämpfer, bevor das zivile Gefängnis von Ayn Qadus errichtet wurde.

Eine populäre Legende erklärt den Namen der Gasse Zqaq Lebghel: Abd al-Aziz al-Maghrawi, ein bedeutender Dichter des Malhun aus dem späten 16. und frühen 17. Jahrhundert und Zeitgenosse des Saadier-Herrschers Ahmad al-Mansur, habe in Fès gelebt. Neider hätten ihn gezwungen, ein im Markt verendetes Tier - ein Maultier - aus der Stadt zu ziehen. Während er das tote Tier zog, stürzten angeblich alle Häuser und Läden entlang seines Weges ein, was die Leute als Zeichen seiner Heiligkeit deuteten. An der Stelle, an der er stehenblieb, erhielt die Gasse diesen Namen.

Ein Markt voller Geschichte und Gegenwart

Wie viele Märkte von Fès birgt auch der Suq al-Qattanin unzählige Geschichten und Geheimnisse, die sich nicht in einem einzigen Bericht erfassen lassen.

Doch bis heute trägt er sichtbare Spuren seiner lebendigen Vergangenheit, und in der Erinnerung der Menschen ist er untrennbar mit der Schönheit traditioneller Kleidung verbunden. Noch immer arbeiten hier Meisterschneider, deren Ruf weit über den Markt hinaus bis in die ganze Stadt reicht. 

Über den Autor Idriss Al-jay
Übersetzung aus dem Arabischen

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