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Orientalismus als Spiegel der Macht - Der deutsche Blick auf den Orient - Niederländischer Orientalismus

Seite 2 von 3: Niederländischer Orientalismus

Der niederländische Orientalismus im Spiegel seiner Geschichte

In den ehrwürdigen Hallen der Universität Leiden, gegründet als intellektuelles Bollwerk gegen das katholische Spanien, nahm das Studium des Arabischen seinen Anfang nicht aus romantischer Neugier, sondern aus theologischer Notwendigkeit. Die Sprache der Wüste diente als Spiegel der heiligen Schrift, als Hilfsmittel, die Worte Gottes in ihrer Ursprache besser zu erfassen. Doch wie der Strom sich windet, veränderte sich auch die Motivation der Gelehrten. Vom reinen Werkzeug der Exegese wandelte sich das Arabische zur Brücke des Verstehens, zur Schatztruhe kulturellen Reichtums.

 

Mit der Gründung der Universität Leiden im Jahr 1575 und der Einrichtung eines arabischen Lehrstuhls im Jahre 1613 begann eine frühzeitliche Phase niederländischer Orientforschung. Thomas Erpenius, der erste bedeutende Arabist des Landes, wurde in seiner Arbeit stark durch den marokkanischen Gesandten Ahmad ibn Qasim al-Hajari beeinflusst [Vgl. Ahmad ibn Qasim al-Hajari, Safinat an-Najah, sowie Korrespondenzen mit Erpenius]. Diese Begegnung verkörpert die politische Allianz zwischen der protestantischen Republik und dem islamischen Marokko, vereint im gemeinsamen Widerstand gegen die spanische Krone.

Sprache als „Dienerin der Theologie“

In der Anfangszeit war das Interesse an der arabischen Sprache vor allem von theologischen Anliegen geprägt. Das Hebräische galt als nahezu ausgestorbene Sprache, sodass man sich der arabischen als Schwesterzunge bediente, um die heiligen Texte besser deuten zu können [Siehe die theologischen Schriften von Franciscus Raphelengius zur Verwandtschaft von Arabisch und Hebräisch]. Diese Sichtweise gipfelte in der Formel, dass Arabisch "Dienerin der Theologie" sei.

Mit dem Einzug der Aufklärung wandelte sich der Blick auf den Orient. Adriaan Reland, ohne jemals arabisches Land betreten zu haben, verfasste sein epochales Werk "De Religione Mohammedica", Adriaan Reland, De Religione Mohammedica, Utrecht 1705). Er stützte sich auf Primärquellen und korrigierte weitverbreitete Vorurteile über den Islam. Seine Objektivität stieß auf Widerstand: Der Papst verbot das Buch, und Reland wurde der "türkischen Kalvinismus" bezichtigt.

Koloniale Interessen

Im Zeitalter des Kolonialismus erhielt das Arabische eine neue Funktion. Es wurde zum Werkzeug administrativer Kontrolle in den muslimischen Gebieten Indonesiens. Besonders umstritten bleibt die Figur von Christiaan Snouck Hurgronje, der sich zum Islam bekannte und als vermeintlicher Muslim nach Mekka reiste (Christiaan Snouck Hurgronje, Mekka, Haag 1888–1889). Sein Ziel war es, Informationen über die indonesischen Pilger zu sammeln, deren religiöse Mobilisierung als Bedrohung wahrgenommen wurde. Seine Berichte prägten die koloniale Politik der Niederlande entscheidend, bleiben jedoch aus heutiger Sicht ethisch ambivalent.

Wissenszentren

Die Universität Leiden etablierte sich als Hochburg orientalischer Studien. Ihre Handschriftensammlungen, etwa von Levinus Warner und Jakob Golius, bergen bis heute unbezahlbare Schätze, darunter die einzige erhaltene Handschrift von Ibn Ḥazms "Ṭawq al-Ḥamāmah“ (Universitätsbibliothek Leiden, Cod. Or. 234 – einzige bekannte Handschrift von Ibn Ḥazms "Ṭawq al-Ḥamāmah"). Parallel dazu trug der Verlag Brill, gegründet 1683, mit der Drucklegung arabischer Werke und der Encyclopaedia of Islam zur Globalisierung orientalischen Wissens bei (Vgl. Brill-Verlag: Encyclopaedia of Islam, 1. Auflage 1913–1936).

Die Dynastie Juynboll und Tausendundeine Nacht

Eine einzigartige Erscheinung ist die Familie Juynboll, deren Mitglieder über vier Generationen hinweg den niederländischen Orientalismus prägten. Von der Scharia-Forschung über Kolonialstudien bis hin zur modernen Hadith-Philologie reicht ihr Vermächtnis (G.H.A. Juynboll, The Authenticity of the Tradition Literature, Leiden 2007). Die heutige Juynboll-Stiftung fördert junge Forscher im Geiste dieser Tradition.

Während in Frankreich die Übersetzung von Tausendundeine Nacht durch Antoine Galland zu einem literarischen Ereignis wurde, blieb die Rezeption in den Niederlanden verhalten (Antoine Galland, Les Mille et Une Nuits, Paris 1704–1717). Die calvinistisch geprägte Leserschaft bevorzugte philosophische Stoffe wie Ibn Ṭufails "Ḥayy ibn Yaqẓān", das mehrfach übersetzt wurde und bis heute nachwirkt.

Die arabisch-islamische Diaspora als neue Trägerin des Wissens

Heute bereichern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit arabischen Wurzeln die Forschung an niederländischen und belgischen Universitäten. Der Orientalismus wird zunehmend zur Form der Selbstbefragung innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft. Das ehemals ferne "Andere" ist Teil des Eigenen geworden.

Vom Orientalismus zum Dialog der Kulturen

Der niederländische Orientalismus hat sich von einer Theologie dienenden Disziplin zu einem interdisziplinären Forschungsfeld gewandelt. Trotz politischer Vereinnahmung und institutioneller Herausforderungen bleibt sein humanistischer Kern lebendig: der Wunsch, das Fremde zu verstehen, nicht zu beherrschen. Es liegt an der neuen Generation von Forscherinnen und Forschern, diesen Geist zu bewahren und weiterzutragen.

Über Yassin Adnan

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