Orientalismus als Spiegel der Macht - Der deutsche Blick auf den Orient
Wenn man mit einem Gelehrten wie Dr. Radwan as-Sayyid spricht, öffnet sich nicht einfach nur ein Fenster zur Vergangenheit - man blickt durch eine ganze historische Panoramascheibe, in der Wissenschaft, Politik, Religion und Kultur ineinanderfließen. In unserem langen Gespräch über die deutsche Orientalistik entfaltete sich ein intellektuelles Mosaik, das weit über die Geschichte der Philologie hinausweist - hin zu den fundamentalen Fragen über das Verhältnis zwischen Orient und Okzident, zwischen Deutung und Dominanz.
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Siehe im Vergleich den Beitrag von Yassin Adnan zum niederländischen Orientalismus |
Radwan as-Sayyid zeichnete zunächst nach, wie sich die deutsche Orientalistik im 18. und 19. Jahrhundert formierte. Anders als in Frankreich oder Großbritannien, wo koloniale Interessen früh in den Gelehrtenbetrieb hineinwirkten, entstand der deutsche Zugang zur arabisch-islamischen Kultur zunächst aus einem theologischen Interesse am Hebräischen. Die Erforschung des Alten Testaments war der Motor, und weil das Althebräische als tote Sprache schwer zugänglich war, wandten sich die Forscher lebenden semitischen Sprachen zu - dem Arabischen, Syrischen, Aramäischen. Die Arabistik war also zunächst Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck.
Erst mit Abraham Geiger, der 1834 fragte, „Was hat der Koran vom Judentum übernommen?“, begann sich die Koranforschung von den alttestamentlichen Studien zu lösen. Theodor Nöldekes Geschichte des Qorans (1859) markierte einen Höhepunkt dieser neuen Richtung. Doch auch hier, so as-Sayyid, blieb der Zugang oft philologisch verengt - der Islam wurde durch seine Texte gelesen, nicht durch seine Geschichte.
Später kamen Forscher, die jenseits religiöser Motive die schiere Größe der arabisch-islamischen Zivilisation erkannten. In europäischen Bibliotheken fanden sich Zehntausende arabischer Manuskripte - viele von ihnen aus Nordafrika und dem Nahen Osten mitgebracht, gekauft oder geraubt. Diese Erkenntnis löste eine Bewegung aus: Forscher begannen, arabische Texte zu edieren und zu veröffentlichen, ähnlich wie zuvor griechische und lateinische. Die islamische Kultur, so as-Sayyid, erwies sich als tief und vielschichtig - mit Millionen überlieferter Handschriften in Literatur, Wissenschaft, Geographie und Philosophie. Es wurde klar: Wer den Islam verstehen will, muss über den Koran hinausgehen. Die Philologie braucht die Geschichtsschreibung.
Romantik, Mythos und das Missverständnis der Dichtung
Die deutsche Romantik war in ihrer Hinwendung zur arabischen Welt oft fasziniert, aber auch naiv. Goethe verglich arabische Dichtung mit einem mythischen Nomadentum, Rückert sah in ihr eine Ursprache poetischer Freiheit. Doch diese Sicht, so betonte as-Sayyid, verfehlte die zivilisatorische Tiefe der arabischen Kultur. Sie verklärte die vorislamische Dichtung, erkannte aber nicht ihren kulturellen Ort im Gefüge der arabischen Welt. Es dauerte bis ins 20. Jahrhundert, ehe Werke wie „Tausendundeine“ Nacht oder „Kalīla wa Dimna“ in den Rang von Zivilisationszeugnissen aufstiegen.
Ein zentrales Thema war die Rezeption des arabischen Frühstaates, besonders unter den Umayyaden. Während moderne Historiker wie Wellhausen diesen als „arabischen Nationalstaat“ interpretierten, lehnten die damaligen Akteure solche ethnischen Zuschreibungen ab. Ihre Legitimation gründete sich auf den Dienst am Islam - Eroberungen, Kriegszüge, die Verteidigung des Glaubens. Der Begriff „arabisch“ war nicht politisch gemeint, sondern kulturell - und blieb dennoch ambivalent. Europäische Deutungen griffen hier oft zu kurz oder verkannten die Eigenlogik islamischer Herrschaft.
Orientalismus als Teil einer Zivilisation - Einfluss der Orientalistik auf das arabische Denken
As-Sayyid kritisierte nicht die Orientalistik an sich, sondern ihre selektive und oft ideologisch eingefärbte Wirkungsgeschichte. Er warnte davor, die gesamte westliche Gelehrsamkeit in eine koloniale Ecke zu stellen - wie es Edward Said in seinem berühmten Werk „Orientalism“ tat. Said, so betonte er, habe viele westliche Disziplinen - Philosophie, Naturwissenschaften, Psychologie - schlicht ignoriert. Orientalismus sei nur ein Ausschnitt, ein Seitenarm westlicher Kulturproduktion.
Said habe später selbst eingeräumt, den Westen nicht zu hassen - er wollte nur die Widersprüche innerhalb der Aufklärung zeigen. Doch seine Schüler, besonders jene der „Subaltern Studies“, radikalisierten den Diskurs. Für sie war die Aufklärung selbst eine Katastrophe. Gayatri Spivak mit ihrem Werk „Can the Subaltern Speak?“ wurde zur Ikone dieser Schule. Der Westen, so deren Argument, müsse sich selbst dekolonisieren - eine Kritik, die inzwischen auch viele europäische Intellektuelle wie Emmanuel Todd vertreten.
Doch auch im arabischen Raum habe der Orientalismus tiefe Spuren hinterlassen. As-Sayyid erzählte, wie selbst brillante Denker wie Hisham Jaʿir in ihren Prophetendarstellungen auf deutsche Theologen rekurrierten - oft über französische Übersetzungen. Die arabische Moderne, so seine These, sei weitgehend im Schatten der Orientalistik entstanden. Selbst Kritik an ihr bleibt häufig sprachlich oder methodisch an sie gebunden.
Nichtsdestotrotz gebe es - so as-Sayyid - herausragende westliche Arbeiten, etwa zur islamischen Rechtsphilosophie. Werke wie Paul Charnys „The Spirit of Islamic Law“ zeigten, dass nicht jede westliche Auseinandersetzung mit dem Islam verzerrt oder ideologisch sei. Viele deutsche Orientalisten - etwa Helmuth Ritter oder Josef van Ess - hätten mit großer Gelehrsamkeit und methodischer Tiefe gearbeitet. Doch auch sie wirkten nie im luftleeren Raum.
Wissenschaft im Dienst der Macht
Ein besonders kritischer Abschnitt unseres Gesprächs drehte sich um die Instrumentalisierung der Orientalistik durch den Staat. As-Sayyid sprach offen darüber, wie deutsche Gelehrte während des Ersten Weltkriegs zur Propaganda beitrugen - etwa in der Unterstützung des osmanischen „Dschihad“ gegen die Kolonialmächte. Einige verfassten Gutachten zur religiösen Legitimation des Krieges. Der niederländische Orientalist Snouck Hurgronje entlarvte dies später als „Kriegspropaganda“.
Auch im Zweiten Weltkrieg kam es zu bizarren Episoden. So berichtete mir as-Sayyid von Josef van Ess, der als Dolmetscher für Rommel dienen sollte, aber mit dem arabischen Dialekt der Beduinen nichts anfangen konnte. Die Episode endete für ihn in britischer Gefangenschaft - und in wissenschaftlicher Arbeit. Dort verfasste er seine ersten Studien zum Koran.
Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus wurde die Orientalistik zunehmend marginalisiert. Die Nazis verachteten fremde Kulturen, die staatliche Unterstützung versiegte. Nach 1945 blieb nur ein wissenschaftlicher Rückzugsraum - abgesehen von der strategisch-politischen Relevanz Palästinas und Israels.
Eine arabische Bilanz
Am Ende unseres Gesprächs stand kein polemisches Urteil, sondern ein Aufruf zur Selbstreflexion. Warum hat die arabische Welt so bereitwillig orientalistisches Wissen übernommen? Warum fehlte über Jahrzehnte eine eigenständige kritische Auseinandersetzung? Für as-Sayyid liegt die Aufgabe der Zukunft nicht in der pauschalen Ablehnung des Westens, sondern in der Wiedergewinnung intellektueller Souveränität.
Er betont: Der Westen ist vielfältig - ebenso wie seine Deutungen des Islam. Zwischen kritischer Aneignung und berechtigter Zurückweisung liegt ein Raum des Denkens, den die arabische Welt wieder selbst gestalten muss. Mit eigenen Begriffen, eigenen Maßstäben - und dem Mut zur Selbstkritik.
Der niederländische Orientalismus im Spiegel seiner Geschichte
In den ehrwürdigen Hallen der Universität Leiden, gegründet als intellektuelles Bollwerk gegen das katholische Spanien, nahm das Studium des Arabischen seinen Anfang nicht aus romantischer Neugier, sondern aus theologischer Notwendigkeit. Die Sprache der Wüste diente als Spiegel der heiligen Schrift, als Hilfsmittel, die Worte Gottes in ihrer Ursprache besser zu erfassen. Doch wie der Strom sich windet, veränderte sich auch die Motivation der Gelehrten. Vom reinen Werkzeug der Exegese wandelte sich das Arabische zur Brücke des Verstehens, zur Schatztruhe kulturellen Reichtums.
Mit der Gründung der Universität Leiden im Jahr 1575 und der Einrichtung eines arabischen Lehrstuhls im Jahre 1613 begann eine frühzeitliche Phase niederländischer Orientforschung. Thomas Erpenius, der erste bedeutende Arabist des Landes, wurde in seiner Arbeit stark durch den marokkanischen Gesandten Ahmad ibn Qasim al-Hajari beeinflusst [Vgl. Ahmad ibn Qasim al-Hajari, Safinat an-Najah, sowie Korrespondenzen mit Erpenius]. Diese Begegnung verkörpert die politische Allianz zwischen der protestantischen Republik und dem islamischen Marokko, vereint im gemeinsamen Widerstand gegen die spanische Krone.
Sprache als „Dienerin der Theologie“
In der Anfangszeit war das Interesse an der arabischen Sprache vor allem von theologischen Anliegen geprägt. Das Hebräische galt als nahezu ausgestorbene Sprache, sodass man sich der arabischen als Schwesterzunge bediente, um die heiligen Texte besser deuten zu können [Siehe die theologischen Schriften von Franciscus Raphelengius zur Verwandtschaft von Arabisch und Hebräisch]. Diese Sichtweise gipfelte in der Formel, dass Arabisch "Dienerin der Theologie" sei.
Mit dem Einzug der Aufklärung wandelte sich der Blick auf den Orient. Adriaan Reland, ohne jemals arabisches Land betreten zu haben, verfasste sein epochales Werk "De Religione Mohammedica", Adriaan Reland, De Religione Mohammedica, Utrecht 1705). Er stützte sich auf Primärquellen und korrigierte weitverbreitete Vorurteile über den Islam. Seine Objektivität stieß auf Widerstand: Der Papst verbot das Buch, und Reland wurde der "türkischen Kalvinismus" bezichtigt.
Koloniale Interessen
Im Zeitalter des Kolonialismus erhielt das Arabische eine neue Funktion. Es wurde zum Werkzeug administrativer Kontrolle in den muslimischen Gebieten Indonesiens. Besonders umstritten bleibt die Figur von Christiaan Snouck Hurgronje, der sich zum Islam bekannte und als vermeintlicher Muslim nach Mekka reiste (Christiaan Snouck Hurgronje, Mekka, Haag 1888–1889). Sein Ziel war es, Informationen über die indonesischen Pilger zu sammeln, deren religiöse Mobilisierung als Bedrohung wahrgenommen wurde. Seine Berichte prägten die koloniale Politik der Niederlande entscheidend, bleiben jedoch aus heutiger Sicht ethisch ambivalent.
Wissenszentren
Die Universität Leiden etablierte sich als Hochburg orientalischer Studien. Ihre Handschriftensammlungen, etwa von Levinus Warner und Jakob Golius, bergen bis heute unbezahlbare Schätze, darunter die einzige erhaltene Handschrift von Ibn Ḥazms "Ṭawq al-Ḥamāmah“ (Universitätsbibliothek Leiden, Cod. Or. 234 – einzige bekannte Handschrift von Ibn Ḥazms "Ṭawq al-Ḥamāmah"). Parallel dazu trug der Verlag Brill, gegründet 1683, mit der Drucklegung arabischer Werke und der Encyclopaedia of Islam zur Globalisierung orientalischen Wissens bei (Vgl. Brill-Verlag: Encyclopaedia of Islam, 1. Auflage 1913–1936).
Die Dynastie Juynboll und Tausendundeine Nacht
Eine einzigartige Erscheinung ist die Familie Juynboll, deren Mitglieder über vier Generationen hinweg den niederländischen Orientalismus prägten. Von der Scharia-Forschung über Kolonialstudien bis hin zur modernen Hadith-Philologie reicht ihr Vermächtnis (G.H.A. Juynboll, The Authenticity of the Tradition Literature, Leiden 2007). Die heutige Juynboll-Stiftung fördert junge Forscher im Geiste dieser Tradition.
Während in Frankreich die Übersetzung von Tausendundeine Nacht durch Antoine Galland zu einem literarischen Ereignis wurde, blieb die Rezeption in den Niederlanden verhalten (Antoine Galland, Les Mille et Une Nuits, Paris 1704–1717). Die calvinistisch geprägte Leserschaft bevorzugte philosophische Stoffe wie Ibn Ṭufails "Ḥayy ibn Yaqẓān", das mehrfach übersetzt wurde und bis heute nachwirkt.
Die arabisch-islamische Diaspora als neue Trägerin des Wissens
Heute bereichern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit arabischen Wurzeln die Forschung an niederländischen und belgischen Universitäten. Der Orientalismus wird zunehmend zur Form der Selbstbefragung innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft. Das ehemals ferne "Andere" ist Teil des Eigenen geworden.
Vom Orientalismus zum Dialog der Kulturen
Der niederländische Orientalismus hat sich von einer Theologie dienenden Disziplin zu einem interdisziplinären Forschungsfeld gewandelt. Trotz politischer Vereinnahmung und institutioneller Herausforderungen bleibt sein humanistischer Kern lebendig: der Wunsch, das Fremde zu verstehen, nicht zu beherrschen. Es liegt an der neuen Generation von Forscherinnen und Forschern, diesen Geist zu bewahren und weiterzutragen.
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Theodor Nöldeke (1836-1930)
Begründer der modernen Koranphilologie. Sein Werk „Geschichte des Qorâns“ gilt bis heute als Standard. Nöldeke betrachtete den Koran als literarischen Text - und verlor dabei oft den religiösen Kontext aus dem Blick. Dennoch: Ohne ihn keine islamwissenschaftliche Methodologie in Europa.
Carl Brockelmann (1868-1956)
Ein „Bibliothekar des Orients“. Sein monumentales Werk „Geschichte der arabischen Litteratur“ katalogisiert tausende arabische Texte. Brockelmann war kein Theoretiker - aber seine Arbeit war Grundlage für Generationen von Forschern.
Annemarie Schimmel (1922-2003)
Eine Ausnahmepersönlichkeit. Schimmel war nicht nur Orientalistin, sondern auch Dichterin und Sufi-Schülerin. Ihre Werke über islamische Mystik („Mystische Dimensionen des Islam“) wurden zu Brücken zwischen Welten. In der muslimischen Welt wurde sie bewundert - in Deutschland lange unterschätzt.
Joseph van Ess (1934-2021)
Ein stiller Gigant der Islamwissenschaft. Van Ess erforschte die Theologie der frühen Muslime mit philologischer Präzision und einem fast unheimlichen Detailwissen. Sein Werk über die Muʿtazila umfasst fünf Bände - ein Monument der deutschen Wissenschaft.
Fritz Steppat (1923-2006)
Er arbeitete an der Schnittstelle von Islamwissenschaft und Soziologie. Seine Analysen des modernen Islam, besonders des politischen Islams in Ägypten, gelten als Vorboten einer empirisch informierten Islamforschung.
Rudi Paret (1901-1983)
Verfasser einer der meistgelesenen deutschen Koranübersetzungen. Paret wollte einen „objektiven“ Zugang zum Text - doch seine Distanz zum religiösen Gehalt des Koran wurde in der islamischen Welt teils scharf kritisiert.
Edward Said in Deutschland - ein schwieriges Erbe
Edward Saids „Orientalism“ erschien 1978 - doch im deutschsprachigen Raum brauchte es fast zwei Jahrzehnte, bis seine Thesen auf breite Resonanz stießen. Der Vorwurf: Viele deutsche Orientalisten fühlten sich zu Unrecht „kolonial“ genannt - schließlich hatte Deutschland keine Kolonien im Nahen Osten.
