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Der Imam, der Esel und die unerwartete Erkenntnis

In den schmalen Gassen der Altstadt von Fès gerät ein Imam mit Joha ins Gespräch. Was als harmlose Frage beginnt, nimmt bald eine Wendung, die den Imam überrascht - und vielleicht mehr über Spiritualität verrät, als er je in der Moschee gepredigt hat.

Joha und sein Esel. Foto mit Hilfe von Gemini erstellt

Eine Erzählung aus dem Buch „Weisheiten und Schalk des Joha - 70 spirituelle Geschichten mit ihren verborgenen Botschaften“ mit dem Originaltitel "Nein, da sage ich mir: Das musst wohl du sein!" von Prof. Dr. Faouzi Skali.

Joha war nicht gerade Stammgast in der Moschee. Eines Tages sprach ihn der Imam darauf an: „Warum sieht man dich hier so selten?“ Joha grinste. „Weil ich immer in Gedanken vertieft bin. Für mich ist das wie ein Dauergebet - und dafür muss ich nicht extra in die Moschee.“ 

Der Imam verschränkte die Arme. „Willst du mir ernsthaft erzählen, dass du sogar dann in tiefer Versenkung bist, wenn du allein zu Hause vor deinem Esel sitzt?“ „Nein“, erwiderte Joha trocken. „Wenn ich meinen Esel anschaue, denke ich jedes Mal: Das bist wohl du!“

Der Imam war kurz sprachlos. Joha hatte ihn nicht wirklich mit einem Tier verglichen - der Seitenhieb war klar: Wer nur nach Äußerlichkeiten urteilt, wirkt schnell stur und kurzsichtig wie ein Esel.

Über Joha sagte man: „Selbst betrunken passt er auf seine Schuhe auf.“ Sprich: Er mag den Clown geben, aber ihm entgeht nichts. An diesem Tag hatte er dem Imam gleich zwei Lektionen verpasst: Echte Spiritualität hängt nicht an einem Gebäude - sie kann überall auftauchen, sogar im Blick auf einen Esel und Freude und Leichtigkeit schließen einen klaren Kopf nicht aus - im Gegenteil, sie machen wacher für das, was wirklich zählt.

Die Sufis nennen diesen Zustand „innerlich trunken, äußerlich nüchtern“ - wie eine Mischung aus Feuer und Eis. Ob der Imam das so sehen wollte, ist fraglich. Aber eines steht fest: Er hatte an diesem Tag reichlich Stoff zum Nachdenken.

Über Faouzi Skali*
Übersetzung aus dem Französischen

 

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Joha (auch Juha, Dschuha oder Nasreddin Hodscha) ist eine legendäre Volksfigur des Orients, bekannt für seine humorvollen, oft spöttischen Anekdoten. Hinter dem Schalk verbirgt sich meist eine feinsinnige Lebensweisheit, die in vielen Kulturen von Marokko bis Zentralasien erzählt wird.

Der Sufismus ist die mystische Strömung des Islams. Er legt den Schwerpunkt auf die direkte, persönliche Erfahrung des Göttlichen und auf die innere Läuterung. Sufis vermitteln ihre Lehren oft in Form von Geschichten, Gleichnissen und humorvollen Anekdoten, um Herz und Verstand gleichermaßen anzusprechen. Siehe auch "Marokkanischer Sufismus"