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Die Botschaft des letzten Boten, des ar-Raqqas

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Die Erzählung von Mounir Lougmani begleitet Mustafa, einen jungen marokkanischen Ingenieur, auf seiner Reise zwischen zwei Welten: der lebendigen, traditionellen Heimat seines Großvaters und der modernen, präzisen Welt Deutschlands. Sein Großvater, genannt ar-Raqqas, war ein einfacher, aber weiser Bote, der Botschaften zu Fuß zwischen den Städten Marokkos übermittelte. 

 

Exakte Zahlen klare Linien und intuitives Verstehen. Fiktives Bild mit Hilfe von Gemini erstelltar-Raqqas verband eine tiefe Beziehung zur Natur, zum Boden und zu den Wegen, auf denen er ging. Für ihn war der Weg weit mehr als eine bloße physische Strecke; er war eine Sprache, ein Erlebnis, eine Erinnerung, die sich in den Fußspuren, im Erdreich und in den Pfaden manifestiert. Diese stille Weisheit lebt in Mustafa weiter, auch wenn er sich nun in einer völlig anderen Welt zurechtfinden muss.

In Deutschland erlebt Mustafa eine Umgebung, die streng organisiert und durchgeplant ist - alles ist perfekt und präzise, doch es fehlt ihm etwas: das lebendige Chaos, die Wärme und die Geschichten, die seine Heimat ausmachen. Er erkennt, dass Brücken nicht nur aus Stahl und Beton bestehen sollten, sondern auch aus Bedeutung, Erinnerung und Menschlichkeit. So wird das Bauen für ihn zur Suche nach einer Verbindung, die mehr ist als eine physische Überquerung.

Als Mustafa in einem Archiv auf eine versiegelte Botschaft aus dem 19. Jahrhundert stößt - ungeöffnet, vom Staub der Zeit bedeckt -, begreift er, dass es nicht allein auf den Wortlaut solcher Botschaften ankommt, sondern auf das, wofür sie stehen: auf die stillen Verbindungen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Diese stumme Nachricht wird ihm zum Sinnbild einer tieferen Verpflichtung - die Erinnerung an jene Leben, Wege und Stimmen zu bewahren, die einst Bedeutung trugen und noch heute nachklingen. Auch wenn er den Inhalt nicht kennt, spürt er: Es geht nicht um eine einzelne Mitteilung, sondern um das Weitertragen von Sinn, Vertrauen und Zugehörigkeit - über Generationen hinweg.

In Deutschland nimmt Mustafas Weg eine neue Gestalt an - konkret wird dies in seinem ersten Projekt: dem Entwurf eines einfachen Fußgängerübergangs über den Neckar. Was zunächst nur als technische Aufgabe erscheint - ein sicherer und fließender Übergang von einem Ufer zum anderen -, entfaltet für Mustafa eine tiefere Bedeutung. Der Fluss erinnert ihn an Erzählungen seines Großvaters, ar-Raqqas, der einst im Winter den wilden Fluss Umm ar-Rabiʿ überquerte, eine Botschaft im Gewand, das Wasser bis zur Brust, zwischen Leben und Tod.

Die Brücke, die Mustafa nun entwerfen soll, wird für ihn zu mehr als einem Bauwerk - sie wird zu einem symbolischen Raum zwischen Erinnerung und Gegenwart, Angst und Vertrauen, Wort und Sinn. Er beginnt mit Bleistift zu zeichnen, nicht nur Linien, sondern auch Worte, leise Gedanken an die Ränder der Pläne - „Lasst die Brücke sanfter sein als Stahl und wahrhaftiger als Worte“. Als er dem Projektleiter seine Entwürfe zeigt, stößt er auf Erstaunen: Wer schreibt schon poetische Sätze in einen technischen Plan? Mustafa aber weiß: „Vielleicht, weil man in meiner Heimat Brücken zuerst mit dem Herzen baut.“

Was sein Team als gestalterisches Feingefühl lobt - seine „Sensibilität für den Ort“ -, ist für ihn vielmehr das Echo all jener, die einst zu überqueren hofften, aber nie ankamen. Selbst eine kleine Aussichtsplattform plant er ein, nicht für Touristenfotos, sondern damit der Mensch kurz innehält - und spürt, dass zwischen zwei Ufern nicht nur Wasser liegt, sondern auch Erinnerungen, Hoffnungen, vielleicht sogar Verluste. Und dass jede Brücke, so schlicht sie auch sein mag, eine leise Frage stellt: Wird auf der anderen Seite jemand warten?

An einem stillen Abend sitzt Mustafa am Ufer des Rheins, allein mit seiner Erinnerung. In den Händen hält er die alte, ungeöffnete Botschaft - ein stummer Gruß aus einer fernen Zeit. Behutsam legt er sie auf das Wasser, nicht um sich von ihr zu lösen, sondern um sie heimkehren zu lassen. Während der Umschlag lautlos dahintreibt, begreift er: Wahre Brücken verbinden nicht nur Orte - sie berühren das Unsichtbare. Sie führen dorthin, wo Menschen etwas verloren haben, wonach sie suchen - zu sich selbst.

In diesem Moment wird ihm klar: Es geht beim Bauen nicht nur um Technik oder Funktion. Es geht darum, Spuren zu hinterlassen - Orte, an denen Erinnerung verweilt, Hoffnung weiterlebt und Menschen einander näherkommen, auch wenn sie sich nie begegnet sind.

 

Archivbild eines nationalen BotenDer Raqqas - Bote der Elite im alten Marokko (vor der Kolonialzeit)

Der Begriff Raqqas bezeichnete einst den persönlichen Eilboten - einen rascheren Kurier als der offizielle makhzennahe Postdienst (Makhzen: herrschende Elite), die sogenannte Poste chérifienne. Diese Boten waren für die Übermittlung eiliger Nachrichten zwischen Tanger und der Residenz des Sultans zuständig. In der Regel handelte es sich um Marokkaner afrikanischer Herkunft - oft Schwarze oder Mischlinge - mit auffallend hochgewachsenen Staturen.

Sie legten die rund 280 Kilometer zwischen Tanger und der Hauptstadt Fès meist in drei Tagen, manchmal sogar schneller, zu Fuß zurück - ununterbrochen, Tag und Nacht, angetrieben von der Spannkraft ihrer langen Beine. Ausgerüstet waren sie mit einem langen Stock, mit dem sie die Tiefe von Flüssen maßen, die sie schwimmend zu durchqueren hatten. Sie hielten unterwegs niemals an, baten niemanden um Obdach, und ihre Mahlzeiten bestanden lediglich aus einem Stück Brot, einigen Datteln und etwas Butterschmalz.

Wie mir berichtet wurde, durchliefen sie die gesamte Strecke ohne eine einzige Stunde Schlaf. Viele starben bereits in jungen Jahren. Ich selbst sah manche von ihnen zusammenbrechen - jedoch immer erst, nachdem sie mir die in ein regenfestes Tuch gewickelte Nachricht übergeben hatten, zusammen mit einem datierten und unterzeichneten Absendervermerk (Son expéditeur).

Es galt folgende Übereinkunft: Erreichte ein Raqqas eine bestimmte Adresse in Fès am dritten Tag vor einer festgelegten Uhrzeit, erhielt er einen Bonuslohn in Doros - Silber- oder Goldmünzen, abgeleitet vom spanischen oros (Gold). Nach Erhalt des Entgelts legte sich der Bote auf eine Matte und schlief - mitunter 48 Stunden am Stück.

In der marokkanischen Volkssprache machte man sich oft über den „Raqqas“ lustig - eine heute fast vergessene Redewendung: „Geh, sag ihm - Gott verdamme den Raqqas, der zwischen uns hin und her läuft!“ Der Ausdruck meinte den Überbringer jeglicher Nachrichten, oft auch indiskreter oder frivoler Botschaften.

Auszug aus dem Buch Bekenntnisse des Grafen Charles de Saint-Aulaire, französischer Gesandter in Marokko um das Jahr 1900.

 

Abschied aus Rabat
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