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An-Nejjarine - Das pulsierende Herz von Fès

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Wie ein pulsierendes Zentrum empfängt an-Nejjarine (Platz der Tischler) Besucher aus allen Ecken der Stadt. Fremde, die aus fernen Gegenden anreisen, stehen ehrfürchtig vor diesem Ort, der sie aufnimmt, um sie anschließend wieder hinauszusenden.

An-Nejjarin, Funduq und Brunnen, Foto: Eberhard Hahne

 
DIE WIDERGEBURT DES FUNDUQ
 
Die Gassen von Ayn ‘Allu und
Das Viertel Sidi Moussa

Dieser Platz bildet das Herz der Altstadt - den Kern ihres urbanen Gefüges, ihre ursprüngliche Keimzelle. Umgeben ist er von einem Gewirr belebter Gassen, in denen sich das volle Spektrum des Marktlebens entfaltet. Zwischen Verkaufsständen und Werkstätten, kleinen Läden und überfüllten Höfen wird hier alles angeboten - vom Luxusgut bis zum täglichen Bedarf. Der Platz ist durchzogen von einem stetigen Strom geschäftigen Treibens, der das Leben der Stadt widerspiegelt. Ein Netz schmaler Gassen umgibt ihn, durchzogen von Wegen und Durchlässen, die sich wie verschlungene Linien auf einer geheimnisvollen Karte winden - einer Karte, die mehr verwirrt als leitet und doch von allen gern durchquert wird.

Westlich vom Platz führen die Wege zu den beiden „Hauptstraßen“ der Großen und der Kleinen Tala‘a. Am Anfang des steilen Aufstiegs der Letzteren steht ein kleiner Laden mit kunstvoll geschnitzter grüner Holzfassade, wie es sie kein zweites Mal in der Stadt gibt. Obwohl er nur an sieben Tagen im Jahr geöffnet ist, ranken sich zahlreiche Legenden um ihn. Es heißt, dass hier, in unbestimmter Zeit, der Prophet Mohammed erschienen sei - sei es im Traum oder in einer Vision. Seither trägt der Laden den Namen „Laden des Propheten“ und gilt als eines der stillen Heiligtümer der Stadt. Einmal im Jahr, zu diesem besonderen Fest, öffnet er seine Türen: Der Koran wird rezitiert, Lobpreisungen erklingen.

Rechts davon führt eine schmale, leicht schattige Gasse namens Dellalin hinab zu einem lebhaften Ledermarkt - dem Markt von ‘Ayn ‘Allu. Er trägt den Namen einer Quelle, die einst mit dem gefürchteten Räuber ‘Allu in Verbindung gebracht wurde. Die Angst vor ihm war so groß, dass selbst die Quelle gemieden wurde - bis Anhänger von Moulay Idris dem Spuk ein Ende bereiteten und die Sicherheit zurückbrachten.

Wer weiter bergauf in Richtung der Gasse der Siebmacher (Ghrabliyin) geht, trifft rechts auf eine Filiale der Bruderschaft von Sidi Abdelkader al-Jilani (1078-1166), deren geistiges Erbe sich über weite Teile der islamischen Welt erstreckt. Hier liegt auch das Grab eines seiner Nachkommen, der nach dem Fall von Granada (1492) in Fès Zuflucht fand und von dort aus nach Westen zog, um die Lehre seines Vorfahren, des in Bagdad bestatteten Mystikers, weiterzugeben.

Wasserbrunnen und Funduq

Nejjarine historisches FotoAn-Nejjarine, Platz der Tischler umgeben auf allen Seiten enge Gassen, oft kaum breiter als ein Meter - wie etwa die Gasse Derb Mina, die aus der linken Ecke des Funduq wie eine schmale Nische in der Wand ins scheinbare Nichts führt. Aufgrund der Enge der Gassen ist es nicht ungewöhnlich, einem Maultier oder Esel zu begegnen, der schwer beladen durch hier geführt wird. Begleitet wird das Tier vom Ausruf seines Besitzers: „A Ssmaa Balaak! Andak!“ (Hör zu! Vorsicht! Aufpassen!). In solchen Momenten bleibt dem Passanten nichts anderes übrig, als sich schleunigst in einen Haus- oder Ladeneingang zurückzuziehen - denn weder das Tier noch sein Treiber nehmen groß Notiz von ihm. Ihre Aufmerksamkeit gilt einzig dem Gleichgewicht der Last.

Berühmt ist der Platz jedoch insbesondere wegen seiner beiden architektonischen Juwelen, dem Seqqayat an-Nejjarine, der kunstvoll gestalteten Wasserbrunnen und dem Funduq an-Nejjarine (Gästehaus der Tischler).

Die untere Fläche des Wasserbrunnens ist mit farbenfrohen, fein gearbeiteten Mosaiken bedeckt - in lebhaften Mustern, die an rotierende Sonnen und Planetenbahnen erinnern. Diese Mosaiken bedecken etwa zwei Drittel der Fassade des Brunnens und werden von einem reich verzierten Stuckbogen eingefasst. Darüber wölbt sich ein kunstvoll bemaltes Holzdach mit geometrischen Mustern, das in ein geneigtes, mit grün glasierten Ziegeln gedecktes Dach übergeht - eine Art Krone, die Seqqayat an-Nejjarine nicht nur Eleganz verleiht, sondern sie zugleich vor Hitze und Regen schützt.

Der Wasserbrunnen wurde zeitgleich mit dem Funduq errichtet - als Ort der Erfrischung für Reisende, ihre Tiere und die Bewohner des Viertels. Beide Gebäude stammen aus dem 18. Jahrhundert. In allen historischen Fotografien und Zeichnungen ist der Wasserbrunnen stets zusammen mit dem Funduq abgebildet - beide gelten als untrennbare architektonische Einheit.

Aufgrund ihrer Nähe zum Moulay Idris-Schrein wurde dem Wasser der Seqqayat an-Nejjarine im Laufe der Zeit beinahe dieselbe spirituelle Bedeutung zugesprochen wie dem Wasser aus den Quellen der Bruderschaften. Heute ist sie das Schmuckstück des Platzes - eine Quelle historischer Aura, die Geschichten von Glanz und Niedergang der Stadt durch die Jahrhunderte hindurch erzählt. Ihr Anblick ist wie ein Blick in eine sagenhafte Vergangenheit, eingraviert in die Erinnerungsschichten von Fès.

Vom ersten Postamt zum Tischlerviertel

Links des Brunnens befindet sich ein kleiner, unscheinbarer Laden, der seit Jahrzehnten verschlossen ist und kaum Beachtung findet - und doch erzählt er eine bemerkenswerte Geschichte. Sein Eingang liegt etwa einen Meter über dem Boden. Seine hölzernen Klapptüren, die sich horizontal öffnen lassen, werden im lokalen Sprachgebrauch „al-Ghellaqat“ genannt - eine Türform, die einst weit verbreitet war, heute jedoch fast vollständig aus dem Stadtbild verschwunden ist.

Der Laden diente einst als Postamt der Stadt, noch vor Beginn des französischen Protektorats. Von hier aus wurden Briefe und Pakete durch sogenannte Raqassa verschickt - einfache, oft mittellose Männer vom Land, die zu Fuß unterwegs waren und Sendungen gegen ein bescheidenes Entgelt in abgelegene Dörfer, Städte und Regionen trugen. Besonders häufig führten ihre Wege nach Tanger und Larache, den beiden Seehäfen, über die Händler aus Fès bis 1913 Zugang zur Außenwelt hatten - bevor mit dem Ausbau des Hafens von Casablanca eine neue Ära begann. In deren Folge wanderten viele große Händlerfamilien aus Fès aus und schufen in Casablanca ein modernes Abbild ihrer alten Heimat - das heute als Viertel al-Hubous bekannt ist.

Rechts des Wasserbrunnens, über einige Stufen hinab, beginnt das eigentliche Werkstattviertel der Tischler - eine lange, gerade Gasse mit mehreren offenen Werkhöfen ohne Türen, dafür mit hohen Decken, um auch lange Holzbohlen unterzubringen. Die einzelnen Werkstätten sind kaum voneinander zu unterscheiden, die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen. Überall stehen Bretter, Truhen, Möbelstücke - fertig oder halbfertig -, eine Art geordnete Unordnung, in der sich der Besucher fragt, welcher Gegenstand zu welcher Werkstatt gehört.

Hier gehen Leben und Tod Hand in Hand. In der einen Ecke entsteht eine prachtvoll verzierte ‘Ammariya - eine geschmückte Sänfte, unter der Bräute, Neugeborene oder beschnittene Jungen getragen werden. Gleich daneben wird ein Sarg für eine verstorbene Frau oder ein Kind gezimmert. Hier werden die Möbel edler Häuser verziert, dort wird der letzte Ruheort eines Menschen glattgeschliffen.

Obwohl der Platz und seinen Wasserbrunnen ihren Namen diesem Tischlerviertel verdanken, besteht zwischen ihnen keine direkte funktionale Verbindung - weder räumlich noch wirtschaftlich.

Der Werkhof der Tischler funktioniert nach eigenen Gesetzen. Seine Öffnungszeiten sind festgelegt, der Zugang erfolgt durch zwei Tore - eines im Westen, das andere im Osten, wo es direkt zum Markt der Schloss- und Riegelmacher (Souk al-Bellajin) führt. Überspannt wird das gesamte Gelände von einer hölzernen Rankkonstruktion, die einst von einem kräftigen Weinstock bewachsen war: mit dichten Blättern und herabhängenden Trauben, wie man sie früher vielerorts in der Stadt sah - als Schattenspender und Zeichen lebendiger Begrünung. Heute ist davon nur noch die Erinnerung geblieben, denn im Zuge einer Renovierung nach der Unabhängigkeit wurde die Pflanze entfernt - ein stilles Relikt aus einer vergangenen Epoche.

Bücher, Wissen und Erinnerung

An-Nejjarine hatte - neben seiner handwerklichen und architektonischen Bedeutung - auch eine kulturelle Dimension. Einst war er ein Treffpunkt für Leseratten und Studierende mit schmalem Geldbeutel. Es gab hier mehrere Läden für gebrauchte Bücher, und der bekannteste unter ihnen war das Geschäft von einem Mann namens al-Hallewi. Sein Laden glich mehr einem Haufen aus verstreuten Büchern, Papierstapeln und alten Zeitschriften als einem geordneten Geschäft. Al-Hallewi selbst saß stets davor, vertieft in ein Buch. Er war ein leidenschaftlicher Leser, und man sagt, dass er jedes einzelne Buch in seinem Besitz tatsächlich gelesen hatte. Fragte ihn ein Kunde nach einem bestimmten Titel, so förderte er diesen scheinbar mühelos aus dem Chaos zutage - als hätte er nicht ein Buch, sondern einen Schlüsselbund aus seiner Tasche gezogen.

War das gewünschte Buch einmal nicht vorhanden, zählte er seinem Kunden sofort eine ganze Reihe ähnlicher oder thematisch verwandter Werke auf - sei es aus Philosophie, Literatur, Ökonomie, Politik oder anderen Fachgebieten. Al-Hallewi war kein Marxist, kein Leninist, doch er kannte sich bestens mit linken Theorien und Literatur aus, weshalb besonders Studenten mit progressiver oder sozialistischer Gesinnung bei ihm einkauften. Für viele war er die Anlaufstelle der intellektuell Neugierigen mit kleinem Budget - ein Leuchtturm des Wissens im Herzen der Altstadt.

Später zog al-Hallewi mit seinem Laden in die Nähe der Universität Sidi Mohammed Ben Abdallah im Viertel Dhar al-Mahraz. Damit verlor der Platz seinen kulturellen Fixpunkt - seither wird er von Läden dominiert, die vor allem touristische Waren anbieten.

 

Wiedergeburt des Funduq
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