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Fes, Labyrinth der Sinnlichkeit - Schulterbreite Gassen

Seite 3 von 5: Schulterbreite Gassen

Schulterbreite Gassen

Fes: Gassen und das Bouanania Cafe, Foto: Eberhard Hahne

Wieder auf dem Boden der irdischen Tatsachen biegt Abdallah Barmarki unerwartet in eine der unscheinbaren Seitengässchen ab. Es wird noch dunkler, die Gänge sind kaum schulterbreit. Hier und da durchbricht eine Tür oder ein weiterer Durchgang die kontur- und fensterlosen Wände. Die plötzliche Stille und Leere wirkt irgendwie unheimlich. Keine der Hausfassaden verrät ihr Inneres oder den Stand seiner Bewohner. Die Wohngassen gelten als erweiterter Raum des Hauses. Als Fremder spürt man unweigerlich die Privatheit dieses Ortes. Gepaart mit Orientierungslosigkeit entsteht schnell das Gefühl, am falschen Platz zu sein. Doch Abdallah grüßt freundlich hier und da und erkundigt sich nach dem Wohlergehen – es scheint, als kenne er nicht nur die verborgenen Ecken des Gassenlabyrinths, sondern auch jeden Bewohner der Medina.

Immer noch ist jedes der 20 Viertel mit wenigstens einem Brunnen, einem Hamam, einer Moschee und einer öffentlichen Backstube ausgestattet, um eine Basisversorgung der Bewohner zu gewährleisten. Das Leben in der Medina, die 1981 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde, ist nicht komfortabel. Die meisten Häuser sind uralt und vernachlässigt.

Schwere Balken stützen die baufälligen Gebäude notdürftig, trotzdem kommt es immer wieder zu folgenschweren Einstürzen. Marokkos bekanntester Autor Tahar Ben Jelloun beschrieb sein Elternhaus im Viertel Makhfiya: „Im Winter war es sehr kalt, wir lebten unter dicken Wolldecken, und im Sommer kamen wir fast um vor Hitze.“ Heutzutage ist es meist die Armut, die in der Medina wohnen lässt. Wer es sich leisten kann, wohnt in den komfortablen Apartments der Neustadt oder einer der Satellitenstädte und kommt nur zum Arbeiten in die Altstadt.

150.000 Menschen sind alleine in den Handwerksbetrieben von Fès el Bali beschäftigt. Die UNESCO zählte 760 verschiedene Handwerksberufe. Die kleinen Werkstätten sind nicht wie der Handel nach Erzeugnissen geordnet, sondern verteilen sich scheinbar willkürlich über die ganze Medina. Wüsste man es nicht besser, könnte man denken, sich in einem Museum für antike Handwerkstechniken zu befinden. Wie in musealen Themenkästen präsentieren Vertreter der ältesten Berufe ihre über Generationen vermittelten Künste der Öffentlichkeit.

Riesige Suppentöpfe aus Kupferblech

Fes: Labyrinth der Sinnlichkeit, Gerberei, Foto: Eberhard HahneAuf dem Place Seffarine nieten die Kesselschmiede riesige Suppentöpfe aus Kupferblech, Weber lassen ihre Schiffchen sausen, Böttcher setzen sorgsam die Dauben der Holzkübel, der Handdrechsler führt das Dreheisen mit der Zehe und treibt das Werkstück mit einer Fiedel an. In winzigen Kojen arbeiten Brokatweber, Kerzenzieher, Kammmacher, Färber, Ziseleure, Tauscheure, Töpfer: Gewerbe, deren Bezeichnung bei uns kaum noch jemand kennt. Wir besuchen die Gerberei Chouara im Osten der Medina. Zum Schutz gegen den infernalischen Gestank bekomme ich ein Bündel Minze unter die Nase gehalten. Halbnackte Männer walken und kneten hier mit ihren Füßen in den stinkenden und ätzenden Brühen der zahllosen Becken die Rinder-, Ziegen- und Schafshäute. Der uralte und mühsame, 20 bis 30 Tage dauernde Prozess aus Enthäuten, Beizen, Pickeln, Gerben, Sämischgerben und Färben macht aus schlichten Bälgen feinstes Leder für die Belgha, die nur in Fes erhältlichen Spitzschuhe, für Jacken und  Taschen. Auch das für edle Bucheinbände bevorzugte Maroquin-Leder entsteht hier. Von den 80 Gerbereien, die es noch vor einer Generation gab, sind vier geblieben. In den umliegenden Fondouks, den ehemaligen mittelalterlichen Karawansereien, werden täglich an die 3.000 Hammelhäute und bis zu 6.000 Rinderhäute lautstark versteigert.

Bei aller Begeisterung für diese anachronistischen Schauspiele ist das Überleben dieser bei uns längst vergessenen Handwerkstechniken bedroht und damit die Existenzgrundlage des Großteils der Altstadtbevölkerung. Einen Hoffnungsschimmer bietet das stark gestiegene Interesse meist ausländischer Fèsfreunde an großbürgerlichen Stadthäusern. Die runtergekommenen Riads, vom großzügigen Bürgerhaus bis zum Palast, werden mit viel Aufwand nach historischen Vorgaben liebevoll restauriert und eingerichtet. Der daraus resultierende enorme Bedarf an allen Arten von Facharbeitern lässt manches darbende traditionelle Gewerbe neu aufblühen. Genutzt werden die erweckten Schönheiten aus 1001 Nacht meist als attraktive Gästehäuser. In den letzten zehn Jahren sind circa 120 Maisons d’Hôtes innerhalb der Stadtmauern entstanden. Sie schaffen Arbeitsplätze und bringen Geld in die marode Altstadt. In den Riad­-Hotels residiert der Gast wie ein Sultan und findet einen entspannenden Rückzugsort von den anstrengenden Erkundungsgängen. Vom luxuriösen Palast mit Hamam, Pool und Ayurvedamassage im Riad Alkantara bis zum museal eingerichteten Gästehaus  Riad Lune et Soleil ist für jeden Geschmack und Geldbeutel die passende Unterkunft zu finden. Gerne werden Stadtführungen, begleitete Markt- oder Hamambesuche organisiert. Vielleicht ermöglichen nun die einst unerwünschten Fremden der alten Dame Fès eine neue Zukunft.

Mein Kopf schwirrt vor lauter Eindrücken, die Füße brennen, ich sehne mich nach der Ruhe „meines“ Riads. Am Place R’Cif verabschiede ich mich dankbar von Abdallah und winke eins der roten Petit Taxis heran. Für heute bin ich genug gelaufen. Morgen werde ich mich alleine ins Getümmel der Marktgassen stürzen und mich einfach treiben lassen.

 

Größte Moschee, älteste Universität
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