Vom Ursprung des Wissens bis zur Zukunft der Zivilisation
Mit ihrem neuen Beitrag lädt Imane Kendili zu einer eindringlichen Erkundung der Menschheitsgeschichte ein. Was zunächst wie eine klassische Betrachtung der Ursprünge von Wissen und Zivilisation beginnt, entfaltet sich zu einer tiefgründigen Meditation über die Zyklen von Entstehen und Vergehen, von Erinnerung und Vergessen.
Die vorliegende Arbeit von Dr. Imane Kendili ist mehr als eine historische Abhandlung - sie ist eine philosophische Reise in das Gedächtnis der Menschheit. Mit scharfem Blick und literarischer Eleganz zeichnet die Autorin die großen Linien einer Geschichte nach, die nicht linear verläuft, sondern von Zyklen des Wissens, des Vergessens und der Wiederentdeckung geprägt ist.
Von den Sumerern bis zur Gegenwart öffnet sich hier ein Panorama, das die Entstehung der Zivilisationen im Spiegel ihrer eigenen Erinnerung sichtbar macht. Dr. Kendili führt uns zu den Quellen, an denen das Denken der Menschheit entsprang, und zeigt zugleich, wie sehr jede Epoche das Erbe der vorangegangenen in sich trägt - sei es in Mythen, in Schriften, in Monumenten oder in den unscheinbaren Riten des Alltags.
Dieses Werk macht deutlich: Zivilisation ist nicht nur ein Fortschritt, sondern auch eine Wiederkehr. Wer die Vergangenheit betrachtet, erkennt in ihr die Muster der Gegenwart - und vielleicht die Vorzeichen dessen, was uns erwartet.
Dr. Imane Kendili, Ärztin, Intellektuelle und Autorin, verbindet in ihrem Schaffen wissenschaftliche Strenge mit einer tiefen Sensibilität für die kulturellen und spirituellen Dimensionen menschlicher Geschichte. Ihre Stimme ist zugleich analytisch und poetisch, verwurzelt in den großen Fragen unserer Zeit und offen für den Dialog zwischen Vergangenheit und Zukunft. Dieser Text ist Ausdruck einer Denkerin, die den Mut hat, das Offensichtliche zu hinterfragen und das Verborgene sichtbar zu machen.
Damit hält der Leser ein Werk in Händen, das ebenso Erkenntnis wie Erinnerung ist - ein Schlüssel, um die Zukunft im Licht der Vergangenheit zu deuten.
Zivilisation im Spiegel des Gedächtnisses
Von den Sumerern bis zur Gegenwart: Die Geschichte der Menschheit ist geprägt von wiederkehrenden Zyklen aus Wissen, Vergessen und Wiederentdeckung. Was aus dem Nichts zu entstehen scheint, erweist sich bei näherem Hinsehen als Erbe längst vergangener Kulturen.
Von Anfang an ist der Ton gesetzt: Heute gilt es, mit größter Genauigkeit eine philologische Arbeit zu leisten, um die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften der Menschheit in ihrer Gesamtheit zu erfassen - von dem, was man gemeinhin die Morgenröte der Zivilisationen nennt, bis in die Gegenwart. Diese Arbeit führt uns zu den Ursprüngen der Gedanken, die die Menschheit geformt haben, in unterschiedlichen Epochen, mit wechselnder Kraft und Wirkung, indem sie die Weitergabe von einem Zeitalter zum nächsten modellierten und umgestalteten.
Die Welt, wie wir sie kennen, beginnt vor rund 7000 Jahren mit der ersten offiziellen Zivilisation, jener von Sumerern, in Mesopotamien, im heutigen Irak. An den Ufern zweier Flüsse - Euphrat und Tigris - ließen sich Menschen nieder, so berichten es die Geschichtsbücher, wie sie in Schulen gelehrt werden.
Eine Gesellschaft formt sich und erfindet ihre Gesetze und Regeln. Sie entwickelt Mechanismen der Herrschaft, stellt soziale Codes auf, die das Zusammenleben regeln. Führende Gestalten treten auf, die diese neue Gesellschaft lenken - ohne jegliches Vorbild, folgt man wiederum den Schulbüchern. Es entsteht Verwaltung, die Organisation des Gemeinwesens durch Texte, die von den Herrschenden verkündet und von der Gemeinschaft anerkannt werden.
Der erste souveräne Staat tritt ins Leben. Doch dieses neue Gebilde, da ohne jedes Vorbild, bringt zugleich ein ganzes System von Gedanken und Werten hervor: eine Religion mit festgelegtem Pantheon, Schutzgottheiten, einer Hierarchie der Götter; klar umrissene soziale Werte - die Liebe zur Ordnung, die Pflicht des Respekts, die Suche nach dem Guten, das Streben nach Wahrheit, das Bedürfnis nach Solidarität, das Gebot der Kohäsion, die Pflicht des Patriotismus, der gemeinsame Glaube an eine verbindende Ideologie, der Schutz des Kultes und seiner Stätten, die Feier des Wissens und der Erkenntnis. Wer weiß, kann niemals jenen gleichgestellt werden, die im Dunkel der Unwissenheit verharren.
In dieser Konstellation - im Übrigen recht einfach - erscheint das geteilte Wissen der Gemeinschaft wie aus dem Nichts hervorgegangen.
Nach Jahrtausenden des Umherstreifens als Jäger und Sammler geschieht plötzlich - so die Schilderung der Geschichtsbücher - ein Bruch: Ein Teil dieser noch immer rudimentären Menschheit organisiert sich zur Gesellschaft, schafft ein Symbolsystem und entdeckt Kenntnisse, die für ihre Epoche revolutionär sind.
Es entsteht ein hohes Maß an astronomischem und astrologischem Wissen, ein Kalender, ein Zahlensystem, Mathematik. Eine Schrift - das Keilschriftzeichen -, das später verfeinert und zu anderen Alphabeten weiterentwickelt wird. Eine dichte Mythologie. Neue Techniken wie Landwirtschaft und Bewässerung, Viehzucht, die Herstellung von Kleidung und Gewändern. Es gibt Feste und Saturnalien [römisches Fest zu Ehren des Gottes Saturn], Riten und Mysterien.
Wie aus dem Nichts etabliert sich eine Kultur und schlägt das erste Kapitel des langen Buches der menschlichen Zivilisationen auf, die einander ablösen sollten - bis hin zu der heutigen, die wir thermo-industriell nennen und die, so scheint es, ihre letzten Atemzüge tut, bevor ihr ein angekündigter Zusammenbruch bevorsteht.
Die weitere Abfolge der Geschichte folgt einer einzigen Logik: Einerseits geben sich die Kulturen nacheinander einen Teil ihres Erbes weiter; andererseits kann keine Kultur aus dem Nichts entstehen. Von den Sumerern bis ins 21. Jahrhundert, über Assyrien, Babylon, das Ägypten der Pharaonen, das chinesische Reich, das antike Persien, das antike Griechenland, das Römische Reich, das islamische Imperium, das Heilige Römische Reich, das Osmanische Reich, die Renaissance, die Kolonialreiche, die beiden Weltkriege und den Kalten Krieg - bis hinein in das „Zeitalter des Verdachts“ und den Niedergang einer Kultur, die all ihre Ressourcen erschöpft und ihre Antriebskräfte verbraucht hat.
Die große Konstante der Geschichte zeigt: Jede Zivilisation baut auf den Hinterlassenschaften der vorangegangenen auf, schöpft aus diesem Reservoir ihre Stärke und etabliert sich so in der Dauer.
Dies geschieht durch Krieg und die Hegemonie des Siegers. Oder - weitaus seltener - durch friedliche Weitergabe. In beiden Fällen gibt es eine anerkannte Vergangenheit, aus der man das Material bezieht, um die Gegenwart zu formen und die Zukunft zu entwerfen.
Doch in diesem Prozess bleibt eine große Unbekannte bestehen: Betrachtet man das, was man den „Anfang der Zivilisation“ nennt, so scheint diese wie aus dem Nichts zu entstehen, und das mit einem hohen Grad an Raffinesse - in auffallender Geschwindigkeit.
Für zahlreiche Forscher ist diese neue Kultur vielmehr eine Wiederverwendung älteren Wissens: eine Zivilisation, die wiederentdeckt, was andere in uralten Zeiten bereits entdeckt hatten. Sie greift das Wissen der Alten auf und frischt es für ihre Epoche neu auf. So bei den Sumerern. So auch im Alten Ägypten. So natürlich auch bei den Maya- und Inka-Kulturen in Mittel- und Südamerika.
Vor den majestätischen Monumenten von Stätten wie Cusco in Peru oder Puma Punku in Bolivien fragten die spanischen Eroberer die Einheimischen nach den Erbauern dieser Wunderwerke. Die Antwort war eindeutig: Diese Bauwerke hätten schon immer existiert, erschaffen von einem alten Volk von Zivilisatoren.
Gleiche Antworten finden sich an allen Ecken der Welt: in Japan, in Indien, in China, in Südostasien, in Afrika, in Südamerika, in ganz Europa, in Russland, in Nordamerika, in Zentralasien - ja, bis hin zu den beiden Polen. Überall berichten Bewohner, dass in uralten Zeiten andere Wesen gebaut, gelehrt und ein altes Wissen verbreitet hätten. Dieses Wissen, geheim bewahrt, lebt bis heute fort - in mehr als 400 regionalen Mythologien, überall auf dem Globus.
Wer die Gründungsmythen von Hunderten unterschiedlicher Kulturen liest - gleich ob im kulturellen oder geografischen Kontext -, stößt auf eine verblüffende Gemeinsamkeit: Die Mythen sind einander ähnlich und erzählen stets Variationen derselben Geschichten, einzig die Namen und Orte unterscheiden sich, was nur natürlich ist.
Das bekannteste Beispiel ist der Mythos der Sintflut, der in mehr als 480 Mythologien der Welt vorkommt. Er illustriert eindrücklich die Idee einer einzigen gemeinsamen Geschichte, die die Zeiten überdauert - weitergetragen durch einfache Mittel: durch Erzählungen und durch Schriftformen wie Petroglyphen [prähistorische, in Stein gravierte oder gepickte Felsbilder, die durch das Einritzen von Motiven in den Felsuntergrund entstehen], Hieroglyphen, Keilschrift, durch zyklopische Monumente, Felsgravuren, Höhlenmalereien, esoterische Zeichen, mündliche Überlieferung, Lehren und Initiationen.
Anders gesagt: Jene Menschen, die sich an den Ufern von Euphrat und Tigris niederließen, waren die Erben älterer Kulturen - wie jener von Göbekli Tepe im Süden der Türkei. Dieser Tempel, dessen Name „Hügel des Nabels“ bedeutet, verweist auf andere Zentren zivilisatorischen Strahlens, etwa die Osterinsel, deren ursprünglicher Name „Nabel der Welt“ lautete, oder Cusco in Peru, das ebenfalls „Nabel der Welt“ bedeutet.
Dieses gemeinsame Zentrum, das Kulturen von Japan bis Mexiko, von Peru bis Kambodscha, von Ägypten bis Rapa Nui miteinander verbindet, erzählt dieselbe Menschheitsgeschichte. Sie reicht in ferne, vergessene Zeiten zurück - in verschiedenen Sprachen und Dialekten, mit unterschiedlichen Gottheiten und heiligen Orten.
Die Alten Ägypter sprachen von dieser „ersten Zeit“. In ihrer Sprache hieß sie Zep Tepi - die Zeit des Horus, die die Geburt der Welten schildert, mit all den Mythologien, die daran geknüpft sind. Eine Epoche, in der Himmel und Erde eins waren - verbunden in einem ständigen Austausch zwischen Oben und Unten.
Eine Zeit, in der Himmel und Erde den gemeinsamen Sinn des Menschen darstellten, ohne Grenze zwischen Höhen und Tiefen. Beide vereinten sich im schöpferischen Geist des Suchenden nach Erkenntnis. Dieses Wissen war stets geheim, verborgen.
Dies führt uns zum Großen Werk: zur Alchemie und ihren Geheimnissen, zu Hermes Trismegistos, zur Smaragdtafel, zu den okkulten Wissenschaften, zum hermetischen Wissen. Es Hermes Trismegistos [ist eine legendäre, weise Gestalt, die in der Antike als Autor mystischer und magischer Schriften, des sogenannten Corpus Hermeticum, galt] führt uns zu all jenen Werten, die Schweigen und Geheimhaltung preisen, die Weitergabe nur durch Einweihung erlauben - denn solches Wissen hat den Wert eines Ursprungs, einer Geburt, einer Wiedergeburt.
Es ist dieses Buch, das unaufhörlich verloren geht und vergessen wird, nur um immer wieder zurückzukehren - in einem endlosen Kreislauf von Ende und Neubeginn.
Der Anfang ist das Ende. Das Ende ist die ewige Wiederkehr jener menschlichen Erkenntnis, die aus einem unerschöpflichen Reservoir zu schöpfen scheint - einem Reservoir, das die Zeiten überdauert und in eine Form von Ewigkeit eingeschrieben ist. So auch heute, in dem, was wir unsere „technologische Zivilisation“ nennen. Weltweit wimmeln die Schriften von Texten und Beschreibungen, die Ereignisse schildern, die unserem heutigen Dasein verblüffend ähnlich sind - und jenem, auf das wir zusteuern.
Wer alte Traditionen wie das Mahabharata oder das Ramayana liest, wer sich Schriften wie die des Propheten Ezechiel anschaut, stößt auf erstaunliche Passagen über Technologien, die uns vertraut erscheinen - als gehörten sie in die Welt, in der wir leben. Tausende solcher Texte existieren rund um den Globus, voller Details über das, was wir heute als „unsere“ Technologie bezeichnen. Doch in Wahrheit ist sie nichts anderes als eine ständige Wiederentdeckung - nach Jahrhunderten des Vergessens, im Übergang von einer Epoche zur anderen.
Die Menschen lernen immer wieder aufs Neue jenes alte Wissen, das einst verloren ging - sei es durch Naturkatastrophen wie die Sintflut, durch den Einschlag eines Meteoriten, durch geophysikalische Umwälzungen wie das Abrutschen der Erdkruste, die Umkehrung der Pole oder gewaltige Sonneneruptionen. Solche Ereignisse riefen Eiszeiten hervor oder Perioden der Erwärmung, löschten Zivilisationen aus, stürzten andere ins Vergessen und ließen wieder neue entstehen - die langsam und mühselig jenes Wissen wiederentdeckten, das andere Kulturen längst erfahren hatten.
Dies ist der Zyklus des menschlichen Buches des Vergessens: eine endlose Abfolge von Größe und Chaos, ad infinitum. Zyklus auf Zyklus entdecken wir wieder, was andere vor uns entdeckt hatten. Dann verlieren wir das Wissen, wie jene es zuvor verloren hatten. Dann folgt eine neue Geburt, eine neue Renaissance - mit einem klaren Ankerpunkt: Wir wenden uns der Vergangenheit zu, um die Zukunft zu erfinden. Und wir erfinden die Zukunft, um das Licht auf unsere vielfältigen, unendlichen Vergangenheiten zu werfen.
Über Imane Kendili*
Aus dem Französischen