Das Omen der verborgenen Karte oder das Spiel mit der Angst - Das Omen der verborgenen Karte
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Kaum hatte mich das schützende Halbdunkel meines Zimmers umfangen, spürte ich, wie sich ein sanftes Gefühl der Erleichterung in mir ausbreitete, als hätte ich eine unsichtbare Last von meinen Schultern geworfen. Ich ließ mich auf mein Bett sinken und sog die Luft mit einer Intensität ein, als könnte ich sie niemals mehr zurückgeben. Nach und nach löste sich die Anspannung, meine Glieder wurden schwer, doch kaum regte sich die Versuchung der Trägheit in mir, schüttelte ich sie ab und griff nach den neu erworbenen Büchern.
Alles schien gewöhnlich - der Index bemühte sich, als treuer Führer die Lektüre zu erschließen und den Weg zum Kern des Werkes zu verkürzen. Hastig blätterte ich die Seiten durch, bis mich etwas innehalten ließ: Eine Karte, verborgen zwischen den Blättern eines mittelgroßen Bandes. Ich nahm sie in die Hand - meine Neugier war geweckt. Seltsame Zeichnungen bedeckten ihre Oberfläche, rätselhafte Symbole, deren Bedeutung sich mir entzog. Je nach Blickwinkel formten sie verschiedene Gestalten: Von einer Seite betrachtet, wanden sie sich zu einem verschlungenen Schlangenkörper, von einer anderen traten sie zurück und offenbarten die Silhouette eines fremdartigen Vogels, dessen Art mir unbekannt blieb. Beim dritten Versuch jedoch entglitt mir das Bild - kaum glaubte ich, die Gestalt zu erkennen, löste sie sich in eine neue, gänzlich unverbundene Form auf, die ebenso schnell verging, wie sie erschienen war.
Schließlich drehte ich die Karte ein weiteres Mal und las, was in scharfen Lettern darauf geschrieben stand: „Unheil und ein schlimmes Ende erwarten denjenigen, in dessen Haus diese Karte gelangt.“
Ich versuchte, die Worte zu ignorieren, legte die Karte zurück in das Buch, in dem ich sie gefunden hatte, und fuhr mit meiner Lektüre fort. Doch meine Bemühungen blieben vergebens. Die Schatten der Worte und der Bilder, die sich in den Tiefen jener Symbole verschränkten, legten sich schwer auf mein Bewusstsein. Unaufhaltsam kreisten meine Gedanken um sie, und jedes Bemühen, mich ihnen zu entziehen, erwies sich als nutzlos.
Schließlich fasste ich einen Entschluss: Es gab keinen Raum für Aberglauben. Es war gänzlich unvernünftig, all das, was ich mir über Jahre hinweg an Wissen und Überzeugungen aufgebaut hatte - jenes Ich, das einzig der Vernunft und der Wissenschaft verpflichtet war - für eine nichtige Karte preiszugeben, die der Zufall in meinen Weg geworfen hatte.
Ich verließ mein Bett und begab mich in die Küche, um mir eine einfache Mahlzeit zum Abendessen zuzubereiten. Doch in meinem Inneren tobte ein heftiger Kampf: Zwischen einer verborgenen, tief in mir lauernden Stimme, die sich aufbäumte und mich vor jener Karte warnen wollte, und meinem Verstand, der mit unerschütterlicher Entschlossenheit seine Festung verteidigte - eine Festung aus Vernunft und Logik, die sich weigerte, auch nur einen Moment lang über jenen Aberglauben nachzudenken.
Ich nahm einige Gemüse zur Hand, schälte sie sorgfältig und begann, sie in kleine Stücke zu schneiden. Doch plötzlich entglitt mir das Messer, wich von seinem Weg ab und schnitt tief in meinen Daumen.
Das Blut quoll hervor, leuchtend rot, und rief aus den dunklen Winkeln meiner Seele Ängste wach, die bislang im Verborgenen geruht hatten. Das Abendessen war vergessen - alles, worum es mir nun ging, war, die Blutung zu stillen und die Wunde zu verbinden. Währenddessen schlich sich ein leiser Hauch des Zweifels in meine Gedanken, eine kaum wahrnehmbare, doch gefährliche Regung.
Mit großer Mühe gelang es mir, ihn im Keim zu ersticken, bevor er Wurzeln schlagen konnte im Boden meines Selbst. Der Appetit war mir vergangen. Stattdessen ließ ich mich zurück auf mein Bett sinken, in der Hoffnung, mich aus dem Griff dieser Ereignisse zu lösen und Zuflucht in einem erlösenden Schlaf zu finden - einem Schlaf, der mich von den Schatten meiner auflauernden Gedanken befreien sollte, die mich trotz all meiner Anstrengungen nicht loslassen wollten.
Ich ließ mich erneut in mein Bett sinken, das mich mit sanfter Geborgenheit umfing. Nur wenige Augenblicke vergingen, ehe eine bleierne Schwere von mir Besitz ergriff und mich in einen Schlaf zog, der meine Fantasie in weiche, warme Arme schloss. In seinem behutsamen Griff fand ich eine flüchtige Ruhe.
Doch plötzlich fühlte ich mich in die Tiefen einer unheimlichen Stille geschleudert - eine Stille, die so absolut war, dass sie mir das Bewusstsein für alles um mich herum nahm. Als ich mich wiederfand, stand ich auf einer endlos erscheinenden, öden Straße, die sich trostlos ins Nichts erstreckte. Ziellos setzte ich einen Fuß vor den anderen, suchte nach irgendeinem Zeichen von Leben - vergebens. Die Leere hüllte alles in ihre erhabene, gespenstische Majestät.
Mit jedem Schritt wuchs in mir eine namenlose Angst. Ich begann zu laufen, getrieben von der verzweifelten Hoffnung, ein Zeichen zu finden, das mir den Weg zur Sicherheit wies. Doch nichts - nichts als Leere in alle Richtungen. Ich drehte mich um, suchte nach einem Anhaltspunkt, doch alle Wege sahen gleich aus.
Da plötzlich - aus den Tiefen dieser unermesslichen Leere - trat ein Bild hervor, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Langsam, unaufhaltsam näherte es sich mir. Mit jeder Sekunde wurden seine Konturen klarer. Es war… es war der Vogel von der Karte. Er breitete seine Flügel aus, kam drohend auf mich zu - doch kaum hatte ich das erkannt, veränderte er sich. Sein Körper schien zu zerfließen, sich zu verformen - und vor meinen entsetzten Augen wand er sich zur Gestalt einer Schlange, die in furchterregender Weise auf mich zukroch.
Ich wollte schreien - doch der Schrei erstickte in meiner Brust. Ich versuchte, mich zu wehren, mich zu befreien, doch meine Glieder gehorchten mir nicht. Die Schlange kam näher und näher, ihr kaltes, lauerndes Auge fest auf mich gerichtet. Mein innerer Schrei zerriss mich - ich kämpfte, rang um Luft, um Bewegung - und schließlich, mit letzter verzweifelter Anstrengung, riss ich mich aus den Fängen des Albtraums.
Keuchend fand ich mich aufrecht sitzend in meinem Bett, schweißgebadet, während mein Herz hämmerte, als wollte es meine Rippen sprengen. In diesem Moment war sie wieder da - die Karte, mit all ihrer düsteren Präsenz, beherrschte sie meine Gedanken. Ich sprang auf, taumelte aus dem Zimmer, getrieben von dem dringenden Bedürfnis, meine Übelkeit zu stillen und meinen Körper von dem Unbehagen zu befreien, das mir dieser Alptraum aufgezwungen hatte.
Doch kaum hatte ich die Tür geöffnet, traf mich ein scharfer, unverkennbarer Geruch. Gas. Butan hatte sich ausgebreitet, sein schwerer, erstickender Dunst drang aus der Küche hervor. Mir stockte der Atem, als mir mit plötzlicher Klarheit bewusst wurde: Ich hatte den Herd angelassen. Das Wasser in der Pfanne war längst verdampft, hatte übergekocht und die Flamme erstickt. Hätte mich der Traum nicht geweckt…
Der bloße Gedanke daran ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Die letzte Spur von Zweifel schwand - die Karte war ein Bote des Unheils, ein Fluch, dessen Gegenwart in meinem Heim ich nicht länger dulden konnte. Ich blickte auf die Uhr. Es war elf Uhr nachts. Aber was tun?
Ich konnte sie nicht zerreißen - etwas in mir sträubte sich dagegen. Doch eine weitere Nacht durfte sie nicht unter meinem Dach verbringen. Da kam mir eine Idee: Unweit meines Hauses lag ein Café. Ich würde dorthin gehen, etwas bestellen - und dann, ganz beiläufig, das Buch mitsamt der Karte zurücklassen. Irgendjemand würde es finden und mitnehmen. So würde ich sie loswerden - und mit ihr die unheilvolle Last, die sie auf mich gelegt hatte.