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Die Macht des Erzählens: Zwischen der Hexe Aqissa und der Waldhexe - Das Atlasgebirge und der Rhein

Seite 2 von 2: Das Atlasgebirge und der Rhein

Im Schatten des Atlasgebirges, am Ufer des Rheins

Mustafa Ben Bouzekri wurde in Aghmat, eine alte Berberstadt in Haouz, am Fuße des Atlasgebirges, geboren. Dort wuchs er auf - in einer Welt, in der Geschichten nicht bloß erzählt, sondern überliefert wurden. Seine Mutter verstand es, Zeichen am Himmel zu deuten, sein Vater arbeitete am Wasserlauf - zwei Fähigkeiten, die Beobachtung und Vorstellungskraft vereinten.

Schon in jungen Jahren entwickelte Mustafa ein feines Gespür für das gesprochene Wort. Wann immer ein Erzähler sprach, hörte er nicht nur zu - er prägte sich die Bilder ein, suchte nach dem, was zwischen den Zeilen verborgen lag.

Die öffentlichen Erzählkreise in den Städten Marrakesch und Fès wurden für ihn zu Orten des Lernens. Dort lernte er, dass das gesprochene Wort mehr sein kann als Information - es kann Haltung vermitteln, Erfahrung transportieren, Sinn stiften.

Für Mustafa war der Erzähler kein Unterhalter, sondern jemand, der Sprache führen konnte wie ein Musiker sein Instrument: präzise, lebendig und voller Bedeutung.

Aufbruch nach Norden

Als Mustafa erwachsen wurde, verließ er Aghmat und ging nach Deutschland. Es war eine bewusste Entscheidung: Er wollte Ingenieur werden, wollte Brücken entwerfen, tragende Konstruktionen aus Stahl und Beton. In Düsseldorf begann er sein Studium des Bauingenieurwesens - und fand sich wieder in einer Welt, die von technischen Begriffen und Zahlen dominiert war.

Doch während er tagsüber über Druckfestigkeit und Traglasten lernte, blieb die Sprache der Erzählung ein Teil von ihm. Abends saß er oft am Rheinufer, beobachtete das Wasser, das im Licht der Straßenlaternen glitzerte, und dachte sich Geschichten aus.

Selbst in den Hörsälen der Universität stellte sich bei ihm die Vorstellungskraft ein: Wo andere von Winkelberechnungen sprachen, sah er Bilder, Szenen, märchenhafte Abläufe. Die Erlebnisse seiner Kindheit - vor allem die Zeit in den Erzählkreisen - hatten ihm einen Sinn für narrative Strukturen gegeben.

Er begann, die deutsche Sprache wie ein Erzähler zu formen: nicht analytisch, sondern erzählerisch, bildhaft, lebendig.

Mustapha und Volker in Düsseldorf erzählen Geschichten aus der Heimat. Fiktives Bild mit Hilfe von Gemini erstellt

In der Universitätsbibliothek traf Mustafa eines Tages auf Volker, einen älteren Deutschen, der sich intensiv mit der Erzähltradition seines Landes beschäftigte. Er organisierte Märchenfestivals, sammelte alte Erzählungen und setzte sich für die Bewahrung des immateriellen Kulturerbes ein.

Die Gespräche zwischen Mustafa und Volker waren lang und intensiv. Mustafa berichtete von Aqissa, einer Gestalt aus der marokkanischen Volksüberlieferung, die aus Neid und Missgunst zur Heuschrecke verwandelt wurde.

Volker war beeindruckt von Mustafas Sprachgefühl. Er sagte: "Im Osten gibt es Quellen, tief, aber oft versiegt. Im Westen fließen Bäche, klar, aber manchmal flach. Warum nicht beides verbinden? Warum nicht eine neue Sprache des Erzählens schaffen?"

Von da an begann Mustafa, den Dialog zwischen beiden Erzählwelten zu gestalten. Er nahm Kontakt zu deutschen Erzählvereinen auf, organisierte Austausche, brachte marokkanische Erzähler mit deutschen zusammen.

Er spann eine Erzählbrücke zwischen zwei Flüssen: dem Rhein und dem Oum Er-Rbia

Doch Mustafa beließ es nicht bei Gesprächen und Veranstaltungen. Er träumte von einem echten Theater, aus Lehm gebaut, mitten in Marokko. Dort sollten die Geschichten vom weisen Wolf, vom gerechten Richter Bu Miftah und von der verwandelten Aqissa einen neuen Raum finden.

Eine neue Erzählrunde entsteht

In Düsseldorf gründete Mustapha eine marokkanische Erzählrunde, zu der sowohl Deutsche als auch Araber kamen. Sie lasen "Kalila wa Dimna", diskutierten Fabeln von La Fontaine (Beispiel: Die Grille und die Ameise) und Ibn al-Muqaffa (sein Leben erzählt auf Arabische) Die Rollen von Zuhörer und Erzähler waren dabei oft nicht eindeutig verteilt.

Den Kindern erklärte Mustafa, dass Literatur ein Werkzeug sei: Sie kann Gedanken öffnen, Vorstellungen erweitern, Gemeinschaft stiften. Eine Geschichte sei nicht nur ein Mittel zur Unterhaltung, sondern ein Spiegel ganzer Gesellschaften.

Er erlebte, wie deutsche Zuhörer beim Erzählen eines Beduinenmärchens tief bewegt waren. Oder wie Kinder aus der Türkei bei der Geschichte eines frechen Affen in schallendes Gelächter ausbrachen.

Am Ende einer besonders gut besuchten Runde sagte Mustafa: „Erzählungen kennen keine Grenzen. Sie wandern von Mund zu Ohr, von Sprache zu Sprache. Sie benötigen keine Ausweise, nur offene Sinne." Er wusste: Was hier wächst, kann auch anderswo Wurzeln schlagen.

Rückkehr nach Marokko

Nachdem Mustafa sein Studium erfolgreich abschloss, kehrte er nach Marokko zurück - nicht nur als Bauingenieur, sondern als jemand, der das Erzählen zu einer eigenen Kunstform erhoben hatte. Er bereiste das Land, von Ouarzazate im Süden bis nach Tétouan im Norden, stets auf der Suche nach den alten Erzählerinnen und Erzählern, nach den Stimmen der Großmütter, die sich nicht vom Fernsehen hatten verdrängen lassen.

In seiner Heimat gründete er das „Haus der Erzählung“, ein Zentrum für mündliche Überlieferung und kulturellen Austausch. Hier wurden die alten Geschichten weitergegeben wie Lieder, hier lebte der Richter Bu Miftah weiter - als Symbol für Gerechtigkeit und Volksweisheit. Und hier fand auch Aqissa ihren Platz: als mahnendes Beispiel für die zerstörerische Kraft von Neid und Bosheit.

Mustafas Weg wurde zu einem Vorbild für viele junge Menschen. Er zeigte, dass kulturelles Erbe nicht im Museum enden muss, sondern weitergetragen werden kann - lebendig, auf Bühnen, in Gesprächen, in Schulen.

Eines Abends stand Mustafa wieder auf dem Platz Jamaa El Fna in Marrakesch. Um ihn hatten sich Kinder und Erwachsene versammelt. Er hob die Stimme und begann: „Es war einmal, in einem vergessenen Dorf, eine Frau namens Die Fromme … und eine Heuschrecke, die einst eine Frau war …“ Kein anderes Licht war zu sehen - nur seine Stimme, die durch die Dunkelheit führte, wie eine Laterne.

Die Hexe Aqissa und die Hexe aus dem Schwarzwald

An einem kalten Abend in Düsseldorf, während der Regen gegen die Fensterscheiben klopfte, erzählte Mustafa seinen deutschen Studierenden die Geschichte von Aqissa - der Zauberin, geboren aus Eifersucht und Hass, die zur Heuschrecke wurde, verstoßen und verdammt.

Als er die Stelle erreichte, in der Aqissa zur Strafe verwandelt wurde, hob eine deutsche Studentin die Hand und sagte: „Diese Geschichte erinnert mich an die Hexe aus dem Schwarzwald - jene, die Kinder in einem Pfefferkuchenhaus gefangen hält, wie bei Hänsel und Gretel.

Mustafa nickte und antwortete mit ruhiger Stimme: „Ja, Hexen ähneln einander - überall auf der Welt. Sie entstehen aus denselben Ängsten, bewohnen dieselben dunklen Winkel der menschlichen Seele. Aqissa und die Hexe aus dem Märchen teilen ein inneres Verhängnis: den Wunsch, zu besitzen, was ihnen nicht gehört.“ Er fügte hinzu: „Hätte Aqissa im Schwarzwald gelebt, hätte sie wohl Kinder mit Honig gelockt und Schrecken gestiftet. Doch sie wurde in Marokko geboren - aus der Erde der Überlieferung, geformt von Missgunst, Gier und Einsamkeit.“ Und er schloss mit den Worten: „Jedes Volk erschafft seine eigene Hexe. Man kleidet sie in die Farben der eigenen Zeit, gibt ihr Brot aus dem eigenen Alltag. Doch im Kern ist es dieselbe Geschichte: die Verführung des Bösen - und die Frage nach Reue.

Ein europäisches Publikum

Mustapha und Heinrich in Bonn Foto mit Hilfe von Gemini erstellt. Fiktives Bild mit Hilfe von Gemini erstelltBeim Europäischen Erzählfestival in Bonn trat Mustafa gemeinsam mit dem deutschen Erzähler Heinrich auf. Vor einem internationalen Publikum las er erneut die Geschichte von Aqissa. Heinrich, sein deutscher Kollege, trug eine Sage aus den Alpen vor - die Geschichte der „Frau mit dem steinernen Herzen“, einer Zauberin, die zur Strafe in einem Eiskristall gefangen war und nur durch Reue befreit werden konnte.

Die beiden Geschichten ergänzten sich, so unterschiedlich ihre Herkunft auch war. Aqissa und die Frau aus den Alpen wurden zu zwei Seiten derselben Figur: Frauen, die das Böse wählten - und dafür einen hohen Preis zahlten.

Nach dem Vortrag fragte Heinrich: „Unsere Zauberin darf sich erlösen, wenn sie bereut. Aber Aqissa - hat sie diese Wahl nicht?“ Mustafa entgegnete: „Aqissa hat den Weg der Reue nie gesucht. Sie hat die Strafe nicht nur akzeptiert - sie hat sie gewählt.“ Daraufhin meldete sich ein Zuhörer und fragte: „Und was wäre, wenn sie eine Biene geworden wäre statt einer Heuschrecke?“ Mustafa antwortete: „Die Heuschrecke zerstört, was sie berührt. Die Biene baut auf, sammelt, nährt. Aqissa hat sich nicht für das Leben entschieden, sondern für das Vergehen. Das ist ihre Tragik - und ihre Wahrheit.“

Eine Geschichte zwischen den Sprachen

Zurück in Deutschland begann Mustafa, die Geschichte von Aqissa in die deutsche Sprache zu übertragen. Doch es war ihm wichtig, keine wörtliche Übersetzung zu liefern. Vielmehr wollte er eine Fassung schaffen, die im deutschen Sprachraum verstanden und gefühlt werden konnte, ohne dabei den Klang ihrer Herkunft zu verlieren.

Er schrieb nicht für ein Lexikon, sondern für die Bühne - mit einem Ohr für den Ton der Brüder Grimm, mit dem Herz einer Erzähltradition aus Nordafrika. Er behielt den Duft der marokkanischen Landschaft bei, ließ die Berge, die Kräuter und die spröden Winde in die Sätze einziehen.

Die „Fromme“ wurde zu Elvira, einer gütigen Frau, die in der Nähe eines Bachs lebte, wo sie Brot und Wärme mit Vorübergehenden teilte. Aqissa aber wurde zur „Waldhexe“, einer kinderlosen Frau, die versuchte, die Kinder anderer an sich zu reißen, um die Leere in sich zu füllen.

In einem Gespräch sagte Mustafa: „In Marokko wird die Zauberin durch Gebete gebannt. In Deutschland wird sie von Bäumen umringt, bis sie zur Ruhe kommt. Ich aber will sie durch Sprache bändigen - bis sie sich in Einsicht verwandelt.“

Gemeinsames Erzählen - Gemeinsames Verstehen

Mustafa lud deutsche Erzähler zu einer besonderen Veranstaltung ein in Marokko ein. In einer abendlichen Runde erzählten sie deutsche Märchen: von den sieben Zwergen, der bösen Königin und von Rotkäppchen.

Die marokkanischen Kinder lauschten aufmerksam. Immer wieder hörte man Erstaunen: „Auch in Deutschland gibt es den Wolf? Auch dort gibt es Angst, List und Mut?“ Mustafa lachte und sagte: „Das Erzählgut der Menschheit ist ein großer Spiegel. Jedes Volk hält ein Stück davon in der Hand - zerbrochen, aber leuchtend. Wenn wir die Stücke zusammenfügen, erkennen wir uns selbst besser.“ Er zeigte den Kindern, dass der Wolf aus dem deutschen Märchen dem Dämon in Aqissas Geschichte ähnelt. Dass Elvira der alten Großmutter gleicht, die das Gute schützt. „Geschichten werden nicht nur weitergegeben. Sie werden geteilt“, erklärte Mustafa. So wie ein Licht von einer Lampe zur nächsten wandert - bis viele Häuser hell werden.“

Ein Abend in Marrakesch

Mustapha in Marrakesch, Jamaa El Fna, erzählt Geschichten aus der Heimat. Fiktives Bild mit Hilfe von Gemini erstellt

Die Verwandlung der Hexe Aqissa in eine Heuschrecke. Fiktives Bild mit Hilfe von Gemini erstelltIn der Nacht vor seiner Rückreise nach Deutschland saß Mustafa noch einmal auf dem Platz Jamaa El Fna. Kinder saßen im Halbkreis vor ihm, die Augen weit geöffnet, die Stimmen still.

Er erzählte von der Frau, die zur Heuschrecke wurde, von einem Wald, der Geschichten bewahrt, und vom Richter Bu Miftah, dessen Tür immer offenstand.

Zum Abschied sagte er: „In jeder Heuschrecke kann eine Aqissa stecken. Und in jedem Menschen, der das Gute will, lebt eine Stimme, die das Böse bannen kann. Wenn ihr eine Geschichte hört - hört nicht nur zu. Fragt euch, was sie euch sagen will.“

Seit jenem Abend wird Aqissas Geschichte in zwei Sprachen erzählt: zwischen Marrakesch und München, zwischen Atlas und Alpen. Sie klingt nach Warnung, Hoffnung und einem Versprechen: Solange jemand erzählt, bleibt das Erinnern lebendig.

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