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Die Untrennbarkeit des Getrennten: Kulturelle Nähe zweier Nachbarn

In der folgenden Erzählung zeichnet Mounir Lougmani ein eindringliches Bild der kulturellen und emotionalen Nähe zwischen Marokko und Algerien, insbesondere am Beispiel der Städte Oujda und Tlemcen, die einst durch gemeinsame Traditionen, Bräuche und Familienbande verbunden waren - lange bevor nationale Grenzen ihre natürlichen Bande durchschnitten.

 

Grenzabschnitt zwischen Marokko und Algerien

Statt nüchterner Historie erzählt der Autor von einem Alltag der Vertrautheit, der sich in der Kleidung, Musik, Sprache, Küche, religiösen Praxis und selbst im gemeinsamen Gedenken an Verstorbene widerspiegelt. Der Text wird so zu einer Hommage an eine grenzüberschreitende Identität, die durch Jahrhunderte gewachsen ist und durch Erinnerungen weiterlebt - trotz der Trennung durch Zäune, Politik und Misstrauen.

Im Mittelpunkt steht dabei die Überzeugung, dass Geografie nicht stärker ist als das geteilte Leben, und dass die Erinnerung selbst ein Brückenbauer sein kann, wenn politische Wege versperrt bleiben. Mounir Lougmani ruft mit seinem Text nicht nur zum Nachdenken auf, sondern auch zum Wiederaufbau eines symbolischen, kulturellen und menschlichen Zusammenhalts zwischen zwei Völkern, die mehr eint als trennt. Die Beziehung zwischen Oujda (Marokko) und Tlemcen (Algerien) wird nicht durch Kilometer, sondern durch Erinnerungen und Emotionen vermessen. Die Grenzen galten einst als durchlässig.

Ob Kaftane aus Fès oder Blusen aus Annaba. Das sind Gedächtnisfäden, die beide Länder durchweben: „Eine Gandoura [locker geschnittenes, ärmelloses Kleid] - genäht in Fès, getragen in Annaba.“ Ob „taʿām“ [arabisches Wort für „Essen“, das in Marokko speziell für Couscous verwendet wird] oder der „kesra“ [traditionelles, rundes Fladenbrot aus Algerien], das sinnbildlich für eine gemeinsame Herkunft steht.

Zwischen den Klängen von Raï [Musikstil aus Westalgerien, der traditionelle Nomadenklänge mit modernen Rhythmen, Synthesizern und gesellschaftskritischen Texten verbindet] aus Tlemcen und Aïta [marokkanischer Gesangsstil, der klagende Rufe, poetische Verse und volkstümliche Rhythmen kombiniert] aus Safi entsteht ein Klangraum, der beide Länder vereint. Wenn das Publikum zwischen „marokkanisch“ oder „algerisch“ debattiert, bleibt der Konsens: „Es ist unser gemeinsamer Klang.“

Mounir Lougmani zeigt anhand starker Bilder und konkreter Beispiele, wie Marokko und Algerien kulturell, kulinarisch, sprachlich und emotional miteinander verflochten sind. Die Unterschiede sind nuanciert - die Gemeinsamkeiten tief verwurzelt. Die Geschichte ist ein Plädoyer für Erinnerung statt Trennung, für Wiederbegegnung statt Nationalismus. Oder wie der Autor schreibt: „Sie steckten uns in Landkarten… aber sie vergaßen, dass Erinnerung an Grenzen nicht durchsucht wird.“

 


Zwischen Nähe und Distanz: Eine kulturelle Verflechtung zweier Staaten

von Mounir Lougmani aus dem Roman „Der Geist der Tamaghrabit“

Zwischen Oujda in Marokko und Tlemcen in Algerien verläuft keine gewöhnliche Straße - hier wandert die Erinnerung wie ein warmer Dunst durch die Täler, ein vertrauter Geruch, der an frisch gebackenes Brot am frühen Morgen erinnert.

Was diese beiden Städte voneinander trennt, ist nicht die Anzahl der Kilometer, sondern das, was über die Jahre an Familiengeschichten, an Abschied und an Alltagsfreude verloren gegangen ist - all die kleinen Gesten, die einst das Leben über die Grenze hinweg verbunden haben.

In jener Region, wo der Osten Marokkos auf den Westen Algeriens trifft, folgten die Wege einst dem natürlichen Takt des Zusammenlebens - lange bevor politische Landkarten Linien durch die Landschaft zogen. Grenzen waren damals nichts als unsichtbare Übergänge, kaum mehr als eine Zeile in einem Schulbuch. Auf den Feldern wuchs wilder Thymian hier, duftende Minze dort - die Natur kümmerte sich nicht um Nationen. Selbst wenn eine Ziege von einem Weidehang zum anderen sprang, stellte niemand Fragen. Die Welt war offen.

Sogar der Streit auf dem Markt war eher ein Ritual als ein echter Zwist: Wer kocht den besseren Couscous? Wer singt die alten Lieder mit mehr Herz? Am Ende lachte man miteinander und fiel sich in die Arme - wie Geschwister, die sich necken, aber einander nicht ernsthaft böse sein können.

Die Frauen auf beiden Seiten des Grenzflusses kneteten denselben Brotteig, machten Feuer in denselben Lehmöfen, und sprachen die gleichen alten Segenssprüche, wenn ein Kind geboren wurde oder wenn man dem Neid entgehen wollte.

Ihre Männer gingen über die Grenze, wie man von einem Hof zum anderen tritt - ohne zu ahnen, dass man bereits begonnen hatte, ohne es zu merken, begannen sie mit unsichtbarer Tinte Trennlinien zu schreiben…, die eines Tages selbst Feste und Freundschaften zerschneiden würden.

Und dann kam jemand - ein Mann mit einem Bleistift, aber ohne Herz. Er zog eine Linie über die Landkarte und sprach: „Hier ist Marokko. Dort beginnt Algerien.“ Aber die Erde - die mehr weiß als jedes Amt - sagte still: „Armes Volk, das glaubt, man könne mit Tinte trennen, was durch Blut und Leben miteinander verbunden ist.“

Tlemcen, Schwesterstadt von Oujda - erinnerst du dich noch?

Tlemcen, Foto: ClaireWeißt du noch, wie wir früher gemeinsam die Oliven ernteten? Wie wir füreinander beteten - in den Moscheen von Marrakesch wie in den Gärten von Tlemcen? Heute hat man uns in Länder aufgeteilt und Grenzen gezogen. Aber die Erinnerung trägt keinen Pass, und echte Sehnsucht fragt nicht nach Erlaubnis.

In Marokko näht man traditionelle Gewänder nicht einfach für den Körper - sie entstehen aus Erinnerungen. Und in Algerien ist ein Umhang aus Wolle - eine Qashabiya [traditioneller, grob gewebter Wollumhang] - nicht bloß ein Kleidungsstück, sondern eine Geschichte zum Anziehen. In den alten Handwerksvierteln - ob in der Kasbah von Algier oder in der Altstadt von Fès - liegt der Duft frischer Stofffarbe in der Luft. Wenn eine Gandoura in Tlemcen mit Margeriten bestickt wird, dann kann es gut sein, dass zur gleichen Zeit dieselbe Blüte das Ende einer marokkanischen Takchita [traditionelles, oft prunkvolles marokkanisches Kleid] ziert. Doch niemand stellt die Frage: „Wer war zuerst?“ Denn in dieser Region kennt die Weiblichkeit keinen Neid - sondern gegenseitige Anerkennung. Sie fürchtet keine Nachahmung - sie feiert sie.

Wenn in den Dörfern Hochzeit gefeiert wird, sagt niemand: „Das ist ein marokkanisches Kleid“, oder: „Das ist algerisch.“ Man sagt schlicht: „Das kommt von drüben - von der anderen Seite.“ Und meint damit nicht Fremdheit, sondern Nähe. Vielleicht trägt eine Braut in Oujda einen Schleier, den sie von ihrer Tante aus Souk Ahras geschickt bekam, und ihre Tante flüstert lachend: „Sogar beim Schmuck gleichen wir uns - wie Figuren aus derselben Geschichte.“ Selbst der kleine Knopf aus Henna, der den marokkanischen Kaftan auf der Schulter der Braut schließt, hat ein Gegenstück auf einer algerischen Bluse aus Annaba. Sie kennen einander nicht beim Namen - aber sie erkennen sich im Schicksal. Beide werden nicht einfach getragen - sie werden im Herzen verankert. Und wenn die Braut auf die Bühne des Festes tritt, fragt niemand: „Woher kommst du?“ Ihr Duft ist vielleicht aus Fès, der Schmuck von den Berbern, die Stickerei aus Tlemcen - aber das Lied, das gesungen wird, kennt beide Seiten.

Oft reisten diese Kleider auf verschlungenen Wegen über die Grenze. In alten Holzkoffern, eingewickelt in roten Seidenstoff, bewahrten Mütter sie auf - um sie an die Töchter weiterzugeben. „Das ist der Schnitt deiner Großmutter - aus Algerien. Trag ihn nicht einfach. Trag ihre Zärtlichkeit.“ Denn wahre Eleganz entsteht in dieser Welt nicht auf Laufstegen, sondern durch die Geduld der Frauen, durch Tränen beim Abschied und durch Geschichten, die in Wohnstuben erzählt werden - während die Schneiderin vor dem Stoff steht wie ein Dichter vor einem störrischen Vers, der sich nicht schreiben lässt.

Ein einziger Couscous - aus zwei Töpfen, mit vielen Namen

Oujda, Foto: HDregardeNiemand weiß genau, wo der erste Couscous gedämpft wurde. War es in einem kleinen Hinterhof in Oujda? Oder in einer Lehmküche am Rande von Tlemcen? Sicher ist nur eins: Couscous ist nicht dazu da, jemandem zu gehören. Er wurde erfunden, um geteilt zu werden. Wenn der Couscous im Tontopf gedämpft wird, steigt der Duft nach oben - durch Fenster, über Dächer, hinaus auf die Straße. Und die Erinnerung folgt dem Duft. Beide Seiten der Grenze benutzen den gleichen Tontopf. Nur die Soße unterscheidet sich ein wenig. Hier kommt Kürbis hinein, dort lieber Zucchini. Mancherorts wird Lamm bevorzugt, andernorts serviert man lieber Huhn. Aber niemand sagt: „Das gehört nur mir.“ Denn wer Couscous teilt, teilt mehr als ein Mahl - er teilt eine Herkunft, die sich nicht auf einen Stammbaum reduzieren lässt.

Bei einer Beerdigung wird die erste Schüssel Couscous in die Mitte gestellt - als Zeichen des Mitgefühls und der geteilten Last, als würde das Essen für einen Moment sagen: Du musst deinen Schmerz nicht allein tragen.

Später, wenn die Stimmen verstummen, sitzt die Großmutter wieder am Herd und erzählt: „Dein Onkel kam früher aus Tindouf. Er hatte immer Rosinen in der Tasche. Und sagte zu mir: Die sind für den Couscous. Iss sie nicht allein.“ Dann schweigt sie kurz. Und fügt mit einem weichen Blick hinzu: „Couscous, mein Kind, isst man nicht allein.“

Dieses Gericht kannte die Sprache der Erde, lange bevor Menschen Karten zeichneten. Es fragt nicht, wer den ersten Löffel rührte - sondern wer heute noch bereit ist, davon abzugeben. Sind wir nicht alle Kinder derselben Glut, desselben Topfes, derselben Brühe?

Eine Melodie - gespielt in verschiedenen Tonarten

Oujda Tlemcen FolkloreZwischen Marokko und Algerien ist Musik kein bloßes Kulturgut. Sie ist ein lebendiges Wesen. Geboren aus den Bergen, aufgewachsen in den engen Gassen der Altstädte, hat sie auf dem Oud die Sprache gelernt und auf der Trommel das Sprechen.

Wenn in einem marokkanischen Dorf das Fest mit Rufen, Klatschen und Trommelschlägen beginnt, antwortet irgendwo jenseits der Grenze die Derbouga [arabische Bechertrommel] - als hätte sie längst gewusst, dass heute getanzt wird. Und lange bevor sich die Körper der Frauen bewegen, beginnen ihre Gewänder zu schwingen, als folgten sie einem unsichtbaren Takt. Fast scheint es, als wolle das Fest selbst sagen: Erst wenn beide Seiten erklingen, ist die Feier vollständig.

Selbst der Schmerz kennt in diesen Ländern keine Grenze. Der Trauergesang aus Fès klingt dem Klagelied aus Annaba so nah, als spräche der Verlust eine Sprache, die keinen Dialekt braucht - nur einen einzigen, tiefen Ton, der durch die Brust fährt und lange nachhallt.

Wer hat uns gelehrt, dass die Hijaz-Tonleiter [orientalische Skala mit charakteristisch klagendem Klang] auf beiden Seiten dieselbe Sehnsucht in sich trägt? Dass ein einzelner Ton - irgendwo zwischen Klage und Hoffnung - mehr verbindet als tausend gesprochene Worte? Wer hat uns gesagt, dass ein klagender Flötenton nicht einer Stadt gehört - sondern einem Gefühl? Und wenn auf einem Fest der Musiker sich vertut und ankündigt: „Dies ist ein marokkanisches Lied“, dann ruft jemand im Publikum lachend: „Nein - das ist algerisch!“ Und alle lachen. Denn dieser „Fehler“ ist kein Irrtum - sondern ein stilles Eingeständnis: Die Erinnerung hat keine Nationalhymne.

In den Cafés, in den Autos, im Internet: Die Lieder von Cheb Hasni, Naima Samih, Cheb Khaled oder Stati laufen nebeneinander, als gehörten sie längst zum selben Album. Niemand prüft, wer woher kommt. Die Stimmung ist nordafrikanisch - das Gefühl offen wie ein Fenster, das man an einem warmen Nachmittag vergisst zu schließen.

Diese Musik hat all das ausgesprochen, was uns in Worten nie gelingen wollte. Sie hat versöhnt, was Reden gespalten hat. Und sie hat etwas in uns wachgerufen, das zu lange geschlafen hat - hinter Mauern und Stacheldraht. „Sind wir nicht ein Volk, das denselben Ton der Sehnsucht kennt? Dürfen wir der Flöte nicht wenigstens das letzte Wort lassen?“

Zwei Dialekte - am Rand eines Gedichts

Was ist der Unterschied zwischen „Waš râk?“ und „Aš-nu kat-dir?“? Beides sind einfache Fragen, die vom Herzen kommen. Das eine sagt ein Algerier, das andere ein Marokkaner. Doch beide meinen dasselbe: „Geht es dir gut - jetzt, wo ich nicht bei dir bin?“

In den Straßen von Oujda hört man algerische Wörter, und niemand wundert sich. In den Gassen von Tlemcen klingt marokkanische Umgangssprache - und keiner übersetzt. Denn zwischen „kaïn“ (es gibt) und „bezzâf“ (viel) ist eine ganze Generation aufgewachsen - mit zwei Sprachen, die keine Fremdsprachen sind. Sie sind eher wie zwei Melodien - desselben Gedichtes.

Eine alte Frau in Maghnia sagt: „Dieser Junge ist kein gewöhnlicher.“ Ihre Schwester in Figuig lacht und antwortet: „Das ist unsere Sprache - nur mit dem Akzent unserer Verwandten.“ Die Dialekte hier trennen nicht. Sie wärmen. Sie sind wie der Geruch der eigenen Kindheit: Er verändert sich nicht - er wächst nur mit einem mit.

Und wenn zwei Männer auf dem Markt laut diskutieren, schreien sie nicht aus Feindseligkeit - sondern aus Vertrautheit: „Was willst du dafür? Das ist doch viel zu teuer!“ „Ach komm, red’ nicht so einen Unsinn!“ Dann wird geschwiegen. Man einigt sich. Denn sie haben in einer Sprache gesprochen, die man nicht in Büchern findet - aber mit dem Herzen versteht.

Sogar die Schimpfwörter - hier eher Neckerei als Beleidigung - sind sich so ähnlich, dass sie einander zum Lachen bringen. Denn wer braucht schon ein Wörterbuch, um zu wissen, wann der andere wirklich wütend ist - und wann nur liebevoll grantig?

Die Kinder wissen sowieso nicht, dass es Unterschiede zwischen den Wörtern gibt. Sie spielen in einer gemeinsamen Sprache, lachen mit einem Klang - und rufen am Ende eines Spiels: „Ich komm morgen wieder - versprochen!“ Als würden sie einen Schwur ablegen: Dass das Spiel weitergeht - egal, wie verschieden die Worte klingen mögen. Denn ein Dialekt ist nicht nur eine Art zu sprechen. Er ist auch eine Art zu sagen: „Ich bin dir ähnlich - auch wenn ich es anders ausdrücke.“

Ein Himmel, zwei Bitten - wenn Regen auf beiden Seiten ersehnt wird

An einem kühlen Morgen, spät im Winter, verlässt eine Mutter in Figuig ihr Haus. Sie wickelt ihre Tochter in eine Decke aus Wolle - und in eine Schicht aus Gebeten. Leise sagt sie, während sie sich dem Platz für das Regengebet nähert: „Oh Gott, gib uns Regen - für uns und für unsere Onkel drüben.“ Zur gleichen Zeit, nur ein paar Kilometer weiter, steht in Tlemcen ein alter Imam zitternd auf dem kleinen Dorfplatz. Mit bebender Stimme betet er: „Gott, enttäusche nicht die Hoffnung der Menschen in Oujda. Auch sie haben gesät - und warten wie wir.“

Der Himmel über dieser Landschaft kennt keine Grenze. Kein Osten, kein Westen, kein Marokko, kein Algerien. Nur ein einziger Blick nach oben - und zwei Hände, die sich gleichzeitig erheben. Wenn in Marokko das Regengebet gesprochen wird, kleidet sich die Erde in Weiß. Wenn in Algerien um Regen gefleht wird, streift die Seele allen Stolz ab. Und in beiden Fällen wird das Land zum offenen Gebetsteppich - der Himmel das Dach, die Hoffnung das Echo.

Die Kinder laufen barfuß. Die Ärmsten kommen zuerst. Und die Großmütter tragen ihre Tontöpfe mit sich - nicht, um darin etwas zu sammeln, sondern um den Wolken zu zeigen, dass ihre Häuser nichts mehr gegen die Trockenheit aufzubieten haben.

Die Frauen singen Lieder aus der Schule der Sehnsucht: „Du Wolke, geh auch zu unseren Geschwistern. Sie haben ihre Arbeit getan, ihre Felder bestellt - aber sie können auf nichts hoffen außer auf Gottes Gnade.“ Und die Kinder stimmen ein, ganz unbefangen: „Lieber Regen - mach keinen Unterschied zwischen uns. Wir haben alle Durst.“

Und wenn die ersten Tropfen fallen, fragt niemand, wo sie niedergehen - ob in Oujda oder in Tlemcen, in Naâma oder in Figuig.“ Am Abend, wenn die Feuerstellen leise zu glühen beginnen, steigen mit dem aufsteigenden Dampf auch die alten Bitten in den dunkler werdenden Himmel: „Herr, mach den Regen zu einer Gabe - nicht zu einer Prüfung. Und schenke auch unseren Brüdern jenseits der Hügel einen Tropfen davon.“

So waren unsere Jahreszeiten einst: Feste ohne Girlanden, Verträge ohne Unterschrift, Liebe - ohne dass man sich sehen musste.

Verwandt durch Brot, Milch und Erinnerung - Familien ohne Grenzen

In einem einfachen Lehmbau in Figuig hängt eine Frau ein altes Hochzeitskleid in den Schrank. Es ist nicht nur ein Stück Stoff aus weißer Seide - es ist ein Archiv ihrer Herkunft, ein gewebtes Zeugnis ihrer Verbindung zur Tante aus Tlemcen. Diese Tante hatte sie vor dreißig Jahren zur Hochzeit begleitet, die Jasminblüten in ihr Haar geflochten und ihr ins Ohr geflüstert: „Bewahr unseren Duft in deinem Haar - und vergiss nicht, woher du kommst.“ Damals war eine Heirat keine Formalie im Rathaus. Sie war ein stiller Bund, geschlossen mit Tränen, Küsse und gemeinsam gebackenem Brot. Der Bräutigam kam aus Maghnia, um die Tochter seines Onkels in Oujda zu freien. Er überquerte die Grenze so, wie ein Liebender das Meer in alten Sagen überquert: mit gutem Willen - nicht mit Dokumenten.

Wenn das erste Kind geboren wurde, stillte es die Schwester seiner Mutter - aus Algerien. Und so wurde diese Frau zu einer zweiten Mutter. Das Kind gehörte nicht mehr nur einer Familie - sondern einer ganzen Gemeinschaft von Zuneigung, die keine Grenzen kannte.

Im Sommer, wenn das Feuer unter dem Grill aufflammte und der Couscous aufgesetzt wurde, sagte die Großmutter zu ihrer Tochter: „Vergiss nicht deinen Onkel in Béchar - auch bei ihm ist Hochzeit. Wir müssen ihnen Henna und geröstete Körner schicken.“ Henna wurde gemeinsam mit Orangen verpackt. Datteln eingewickelt in ein besticktes Tuch. Auf dem Paket stand: „Von deinen Geschwistern - zu unseren Geschwistern.“

Die Briefe, die hin und her gingen, waren voller Gefühl - mehr als offizielle Post es je sein könnte. Sie begannen mit „Meine Liebste“ und endeten mit: „Vergib mir, wenn ich beim Schreiben weine.“

An den religiösen Festtagen wurden die Opfertiere auch für die gedacht, die „hinter dem Zaun“ leben mussten. Und man sprach im Gebet: „Herr, gib auch ihnen einen Anteil an deinem Segen - so, als wären sie hier bei uns.“

Selbst bei Todesfällen wurde das Gedenken nicht abgeschlossen, bis jemand sagte: „Die Anteilnahme kam aus Tlemcen. Gott vergelte es ihnen. Sie haben uns nicht vergessen.“

Die Kinder redeten ohnehin in einer Mischung aus beiden Dialekten - und lachten, wenn sie vom Onkel „Derri“ (Junge) genannt wurden. Dann fragten sie ihre Mütter: „Dürfen wir zu Tante nach Algerien fahren?“ Und die Mütter antworteten mit leiser Stimme: „Wenn das Tor sich öffnet… fahren wir alle. Denn die Sehnsucht - sie hält das nicht mehr aus.“

Ein Friedhof ohne Grenze - wo Herkunft nicht zählt

Am Rande von Oujda, dort wo der Wind genügt, um die Stille zu erklären, und an den Hängen von Tlemcen, wo kein Mensch den Schlaf der Toten stört, liegen Menschen nebeneinander, die sich nie gefragt haben: „Woher kommst du eigentlich?“

Hier ruht ein Mann aus Figuig neben einer Frau aus Béchar. Sie teilen sich das Schweigen - so wie sie sich einst, an einem alten Markttag, Brot und Lächeln teilten. Und kein Grabstein fragt: „Von welcher Seite kam dieser hier?“ Denn die Erde kennt keine Flaggen. Sie kennt nur das Gewicht der Abwesenheit.

Wenn in Maghnia eine Großmutter stirbt, wird über sie dasselbe Gebet gesprochen wie über einen alten Mann in Marrakesch: „Herr, mach ihr Grab zu einem Garten des Himmels.“ Und wenn in Fès ein Großvater beigesetzt wird, wird der Leichnam mit Erde bedeckt, so wie man es in Constantine seit Jahrhunderten tut. Die Rituale sind dieselben. Als wollte der Tod die Verwandtschaft wieder ordnen, die das Leben vergessen hat.

In einer stillen Ecke eines vergessenen Friedhofs nahe der Grenzlinie steht ein Stein, auf dem geschrieben steht: „Hadj Mustafa, gestorben 1971. Geboren in Algerien, gestorben in Marokko.“ Doch sein Glück war vollkommen. Die Frauen kommen mit Rosenwasser zu den Gräbern: „Grüß mir Tante Zineb. Sie hat mir gesagt, dass sie ihre Tochter vermisst.“ Und dann weinen sie leise - als wären die Gräber Postkästen, die zwar nicht antworten, aber alles hören.

An den Feiertagen der Erinnerung unterscheiden die Besucher nicht mehr zwischen „diesem von hier“ und „jenem von dort“. Der Wind ist derselbe, und die Gebete steigen auf - ohne Pass, ohne Namen. Weil Vergebung keine Ausweispflicht kennt. Nur Sehnsucht. Diese Friedhöfe sind stille Urkunden einer Verbundenheit, die nie offiziell besiegelt wurde - aber unter der Erde längst gilt. Als hätten die Toten irgendwann zueinander gesagt: „Jetzt ist es genug. Lasst uns endlich ruhen - wir sind müde vom Getrenntsein.“ Wenn also die Erde uns wieder zusammenführt - warum nicht auch das Leben? Bevor es für Begegnung zu spät wird?

Der halbe Laib - und die ganze Sehnsucht

Früher wurde Brot nicht bloß für den Hunger gebacken. Es war ein Zeichen der Verbundenheit. Eine Gabe, eine Einladung, ein stiller Gruß. Eine Großmutter in Marokko wickelte den noch warmen Laib in ein Tuch mit Silberstickerei und schickte ihn an ihre Tante in Tlemcen. Zur Enkelin sagte sie: „Bring ihr das Brot - so wie früher: frisch aus dem Ofen, von Hand geformt, und mit Herz geschenkt.“ Brot war damals mehr als Nahrung. Man tauchte es in Linsensuppe oder Öl - aber man aß es nicht allein. Denn Brot, das nicht geteilt wird, wird hart - im Magen wie im Herzen.

An den Märkten entlang der Grenze kannten die Brotbäcker ihre Kundinnen beim Namen - nicht nach Papieren. Einer schrieb sogar mit Holzkohle auf den noch warmen Laib: „Für Tante Zahra -
vergiss nicht: ein Glas Tee wartet auf mich.“ Als die Grenze 1994 geschlossen wurde, blieb ein halber Laib im Ofen liegen - und die andere Hälfte im Mund der Erinnerung. Als wäre selbst das Brot entzweit worden. Ein Teil wartete in Oujda darauf, gegessen zu werden - der andere sehnte sich in Tlemcen nach dem alten Geschmack des Wiedersehens.

Die Frauen weinten damals nicht, weil der Teig nicht aufging. Sondern weil niemand kam, der an die Tür klopfte und das Klappern der Brotplatte hören konnte, das früher hieß: „Das Brot ist fertig - kommt und teilt es, Geschwister.“ Selbst auf Hochzeiten wurde der Laib nicht mehr mit Gesang verteilt - sondern mit einer stillen Geste, die etwas vermissen ließ: den Klang der Nachbarn.

Die Gemeinschaftsöfen, früher voller Leben, waren plötzlich stumm. Sie sahen den Teig - aber sagten nichts mehr. In den Vierteln von Sidi Yahya, in den Gassen von Tlemcen - niemand rollte den Laib mehr sorgsam in ein weißes Tuch, um ihn über die Grenze zu schicken. Nur die Erinnerung vergaß es nicht. Jeden Freitagmorgen legt die Großmutter noch immer ein zusätzliches Brot auf den Tisch, schaut zur Tür und flüstert: „Vielleicht kommen sie ja doch - eines Morgens, ohne Vorwarnung.“ Denn Brot war nie nur Brot. Es war ein Brief, geschrieben in der Sprache der Wärme, versiegelt mit einem stillen Gebet, verschickt in der Hoffnung, dass sich nicht nur Pakete öffnen - sondern auch Grenzen.

Wer baut die Brücke wieder auf?

Heute steht diese Brücke leer. Der Wind geht hindurch. Der Putz ist abgefallen, die Seile fehlen, die Stimmen verstummt. Nur der Schatten des Wartens liegt noch auf den Planken. Nur das Echo von Schritten, die eines Tages stehenblieben - an der ersten Kontrollstelle. Die Erinnerung ruft von der marokkanischen Seite: „Wir haben euch die Hand gereicht - warum antwortet ihr nicht mit einem Gruß?“ Und auf der algerischen Seite flüstert sie unter Tränen: „Wir haben aus demselben Fluss getrunken - warum schmeckt das Wasser plötzlich bitter zwischen uns?“

Die Mauern mögen hoch sein - doch die Sehnsucht reicht weiter. Die Zäune mögen unter Strom stehen - doch ein Gebet braucht kein Kabel, um anzukommen. Und die Herzen? Sie suchen verzweifelt nach einer Sprache, die ohne Mikrofone auskommt - eine Sprache, wie sie die Großmütter sprechen, wenn sie Tee kochen für jemanden, der vielleicht gar nicht kommt.

In den Cafés von Oujda bleiben die Stühle leer, die zur Grenze schauen. In den Märkten von Tlemcen öffnet man freitags die Kisten - in der Hoffnung, es möge doch noch „Zucker aus Marokko“ oder „Kaffee aus Fès“ darin liegen. Glaubt ihr, die Geografie vergisst? Sie erinnert sich. Und sie leidet. Und sie bewahrt die alten Adressen unter ihrer Haut. „Hier zogen einst Hochzeitszüge von Algerien nach Marrakesch.“ „Hier verlief sich ein kleines Mädchen zwischen beiden Seiten - man erkannte es an seiner Sprache. Und an seinem Lachen.“

Wer also baut diese Brücke wieder auf? Nicht mit Steinen - sondern mit Versöhnung. Nicht mit Erlassen - sondern mit einer ausgestreckten Hand. Nicht mit Bedingungen - sondern mit einem ehrlichen Vergessen.

Die Geschichte ist müde, unsere Enttäuschungen immer neu zu notieren. Vielleicht ist es Zeit, dass sie einen neuen Satz schreiben darf: „Und dann, nach langer Hoffnungslosigkeit - gerade da, als niemand mehr daran glaubte –, geschah das Unerwartete: Sie hörten plötzlich wieder hin – auf die leise Stimme der Erinnerung.“ Es war eine Stimme, die nie ganz verstummte. Sie sprach nicht laut, aber sie war da - im Duft eines noch warmen Brotes, in einem alten Lied, das zufällig aus dem Radio klang, im ersten Regen nach Monaten der Stille, im fernen, weichen Klang einer Flöte am Abend. Es war keine Stimme, die auf Papier geschrieben stand - keine, die man archivieren oder zitieren konnte. Sie war eingeschrieben in Herzen. Nicht mit Tinte, sondern mit dem feinen Schmerz des Bedauerns und mit dem stillen, unbeirrbaren Wunsch, einander eines Tages wiederzusehen.

Epilog

Man sagt, Erinnerung sei etwas, das vergeht. Doch in Wirklichkeit ist sie das Einzige, das bleibt, wenn Mauern gebaut, Grenzen gezogen und Stimmen zum Schweigen gebracht wurden.

Zwischen Marokko und Algerien existiert etwas, das keine Verordnung je auflösen kann: eine leise, widerständige Nähe. Sie lebt im Geschmack eines vertrauten Gerichts, im Muster einer Stickerei,
in einem Kinderlied, das man auf beiden Seiten der Grenze kennt.

Diese vorliegende Erzählung ist kein politisches Manifest. Er ist ein behutsames Erinnern. Ein Aufzählen jener kleinen Dinge - Gesten, Rituale, Wörter - die gemeinsam gelebt wurden, lange bevor man sie national zuordnete. Er ist ein Flüstern gegen das Vergessen. Ein stiller Vorschlag an die Zukunft: dass es Wege zurückgeben könnte - nicht dorthin, wo alles war wie früher, sondern dorthin, wo Nähe wieder möglich ist, weil man gelernt hat, dass Geschichte auch heilen kann.

Die wahren Grenzen verlaufen nicht zwischen Ländern, sondern zwischen Herzen, die nicht mehr miteinander sprechen. Aber solange eine Großmutter jeden Freitag ein zusätzliches Brot backt - für jemanden, der vielleicht doch noch kommt, solange gibt es Hoffnung. Und vielleicht genügt am Ende genau das: Ein Lied, ein Laib Brot, ein Blick - über einen Zaun hinweg. Damit das, was einst geteilt wurde, eines Tages auch wieder zusammengehört.

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