Bibliothek al-Qarawiyyin: Ein Spiegel marokkanischer Gelehrsamkeit
Im urbanen Geflecht der Altstadt von Fès liegt ein kultureller Knotenpunkt, an dem sich Gelehrsamkeit, Handwerk und Erinnerung auf besondere Weise begegnen: die Bibliothek der Qarawiyyin. Dieser Beitrag ist eine Annäherung an einen historischen Ort intellektueller und materieller Praxis.
Im Herzen dieser lebendigen Topographie liegt nicht nur die ehrwürdige Bibliothek der Qarawiyyin, sondern ein gesamter geistiger und urbaner Kosmos, der von der Energie seiner Bewohner, der Tiefe seiner Institutionen und der Widerständigkeit seiner kulturellen Praktiken getragen wird.
Der folgende Beitrag von Idriss Al-Jay zeichnet keine lineare Chronik, sondern ein feingliedriges Mosaik: Er folgt den Spuren legendärer Gelehrter ebenso wie den leisen Bewegungen der Kupferschmiede, der Erzähler auf den Plätzen, der Stimmen aus den Medresen. Er durchmisst Plätze, Märkte, Brücken, Schulen und Winkel, in denen sich das Weltliche und das Spirituelle durchdringen - von der Kunst des Tarab al-Malhun [eine traditionelle Form der musikalisch-poetischen Darbietung aus Marokko, bei der der Malḥun, ein kunstvoller, oft volksnaher Versgesang in klassischem Arabisch oder Dialekt, vorgetragen wird.] bis zur kontemplativen Stille der Handschriftenkammer.
Diese Topographie des Wissens und des Widerstands, der Frömmigkeit und der Alltagskunst, erscheint hier nicht als museale Erinnerung, sondern als atmender Organismus. Die Bibliothek ist sein Herz, doch der Körper erstreckt sich weit über sie hinaus - durch Räume und Zeiten, durch Sprache, Geste, Klang und Schrift. Diese Schrift ist eine Annäherung an diesen Körper: ein Versuch, das Schweigen der Dinge, die Musik der Orte und die Kraft der Erinnerung in Worte zu fassen.
Al-Qarawiyyin-Bibliothek: Ein zeitloses Heiligtum des Wissens
von Idriss Al-Jay
So oft der Name der ehrwürdigen Stadt Fès ausgesprochen wird, ersteht vor ihrem inneren Auge unweigerlich das Bild ihrer altehrwürdigen Universität al-Qarawiyyin samt ihrer berühmten Bibliothek. Diese hebt sich in ihrer architektonischen Gestalt und ehrwürdigen Ausstrahlung markant von ihrer Umgebung ab - gleich einem geweihten Sanktuarium, das aus dem beständigen Strom der Zeit emporgehoben wurde, um als stiller Raum in tiefster Ruhe fortzubestehen.
Am Eingang der al-Qarawiyyin-Bibliothek empfängt den Besucher ein historisches Dokument, an der Wand befestigt, das auf das Gründungsjahr 1349 n. Chr. verweist, in der Ära der Meriniden-Dynastie. In die Tafel ist der Name ihres Gründers, Sultan Abu Inan (1329-1358), eingraviert, ebenso wie die Regeln und Verordnungen, welche das Verhalten der Besucher gegenüber den bewahrten Schätzen ordnen und ihre Einhaltung gebieten, zum Zwecke der Aufrechterhaltung von Ordnung und Funktion der Institution.
Es folgt eine emporführende Treppe, geschmückt mit leuchtender Mosaikpracht, überquellend von der Erhabenheit des Wissens und der Stufen zur Erkenntnis. Die großzügigen, ehrfürchtig sich ausdehnenden Räume verbreiten eine Atmosphäre der Kontemplation - ein Reich des Denkens und eine Pilgerfahrt durch die von menschlichem Geist erschaffenen Welten verschiedenster Epochen.
Wo Geschichte und Handwerk aufeinandertreffen
Inmitten des lebhaften, von geschäftigem Treiben erfüllten Stadtviertels erscheint sie wie eine unpassende, doch harmonisch fremde Melodie - ein disharmonischer Klang, der gerade durch seinen Kontrast bezaubert: ein Ort, an dem die Schatten der Vergangenheit still auf die Gegenwart fallen.
Ein Platz, der im Vorübergehenden die Vorstellung eines andalusischen Marktes im Spätherbst wachruft - bekräftigt durch die urbanen Elemente der damaligen Zeit: ein öffentlicher Brunnen, eine Koranschule, ein Badehaus, ein Ferrane (Brotbackstube) - unabdingbare Einrichtungen jeder Wohnstruktur in der Altstadt. Doch bei alledem bleibt die Bibliothek die Herrin des Saḥat aṣ-Ṣeffarine: Sie beherrscht die Fassade, verleiht ihr Würde, und erhebt zugleich das Handwerk, das rings um sie ausgeübt wird, zu einem historischen Wert, den viele Reisende und Historiker gerühmt haben - unter ihnen Hassan al-Wazzan (Leo Africanus) in seinem Werk Beschreibung Afrikas.
Der Platz bezieht seinen Namen und Ruf von der Kunst des Kupferschmiedens - dem Bearbeiten von gelbem und rotem Messing - ein Handwerk, dessen Echo bis heute hörbar ist und als unverkennbares Zeichen der Identität der Stadt weiterlebt.
Beständigkeit im Wandel
Wie eine geöffnete Hand mit fünf ausgestreckten Fingern verzweigt sich der Platz in gewundene Gassen und Märkte mit jeweils eigenem Charakter. Hier, auf diesem mittigen Fleck Erde, wohnen Beständigkeit und Wandel, Gegensätze und Einklang, Unterschied und Übereinstimmung, Wissen und Unwissenheit, Geheimnis und Offenbarung, Offenheit und Zurückhaltung, Stille und Lärm, Tod und Leben - alle gemeinsam. Ein ehrwürdiger Platz, gelegen am Fuß sanfter Hänge, von wo aus Gassen in nordöstlicher und westlicher Richtung zu den Bereichen rund um die Qarawiyyin-Moschee führen, während jene im Südosten an die beiden historischen Stadtteile angrenzen.
Noch ehe sich der Name des Platzes fest mit dem Handwerk der Kupferschmiede verband, wurde dieses zuvor am Rande des Marktes Rceif (الرصيف) ausgeübt. Als jedoch 1797 über dem Felsvorsprung mit der höchsten Kuppel der Stadt eine Moschee errichtet wurde - nach den Plänen des Architekten Hassan as-Sudani (حسن السودان) und auf Geheiß Sultan Moulay Suleimans (السلطان مولاي سليمان), der von 1792 bis 1822 regierte, kamen Zweifel auf: Man fürchtete, die Erschütterungen, welche die heftigen Schläge der Hämmer verursachten, könnten das Fundament der Moschee gefährden, wenn auf den Blechen geschlagen wurde, um Haushaltswaren, Festutensilien oder Trauerzeremoniengegenstände zu formen. Um diese mögliche Gefahr zu vermeiden, wurde das Handwerk vom Markt Rsṣif auf den Platz aṣ-Ṣeffarine verlegt.
Doch bleibt die Entscheidung über diesen Ortswechsel rätselhaft: Warum gerade an jenen Ort, an dem zwei bedeutende Bildungsstätten einander gegenüberliegen - die Schule aṣ-Ṣeffarine und die Bibliothek der Qarawiyyin? Stören die Hammerschläge nicht erneut die Stille, welche die Schule wie die Bibliothek - eine der bedeutendsten öffentlichen Bibliotheken Marokkos, ja der ganzen Welt - so dringend benötigen?
Eine Schatzkammer der Schriften
Dieser Bibliothek war ein Ruf beschieden, der bis heute fortwirkt, deren Existenz der Universität al-Qarawiyyin verdankt. Zwar gab es andere Bibliotheken, die ihr historisch vorausgingen - etwa die almohadische Bibliothek (الخزانة الموحدية) in Marrakesch, gegründet von Yaqub al-Manṣur (يعقوب المنصور), der von 1184 bis 1199 regierte, oder jene von Abu l-Hassan as-Sari in der Stadt Sebta im 13. Jahrhundert, ebenso wie weitere Bibliotheken innerhalb wie außerhalb der Qarawiyyin - doch keinem dieser Wissenshäuser war jene Beständigkeit und jenes wissenschaftliche Strahlen beschieden, wie es die Bibliothek der Qarawiyyin bis heute auszeichnet.
Umgeben war sie stets von der Zuneigung und Fürsorge von Königen und Prinzen, Prinzessinnen und Gelehrten, ja aller Liebhaber des Wissens. Über die Jahrhunderte hinweg widmeten sie ihr bedeutende wissenschaftliche Schätze, die in ihrer Vielfalt nahezu alle Wissensgebiete umfassten, welche an der Qarawiyyin und ihren zugehörigen Institutionen gelehrt wurden: Medizin, Mathematik, Philosophie, Logik, Geometrie, Astrologie und Astronomie, islamische Rechtswissenschaften, Hadith, Koranexegese, Sprach- und Literaturwissenschaften - und viele andere Disziplinen des menschlichen Geistes.
Lebendige Zeugnisse des Handels
Ihr Portal erhebt sich stattlich und schön, als umfinge es schützend einen Platz, der sich mit einem seiner südwestlichen Arme in eine Straße verlängert, an deren Rändern sich rechts und links kleine Werkstätten aneinanderreihen - wie ein lebendiges, kollektives Museum für die Kunst des Kupferschmieds, in Gelb und Rot glänzend. Diese Straße windet sich sanft bis zu einem kleinen Platz, der ihre natürliche Verlängerung bildet. Zur Rechten öffnet sich dieser Platz zum Markt Raḥbat al-Awwadin (رحبة العوادين), einem einst pulsierenden Zentrum für alles, was mit dem Holzhandwerk zu tun hatte: Pflüge, Holzschüsseln, die „Ribaba“ (ربابة) - ein andalusisches Saiteninstrument -, kleine Trommeln des Ṭarab al-Malḥun, hohle Klangkörper für Streichinstrumente sowie Werkzeuge des kunsthandwerklichen Gewerbes.
Der Markt war bekannt für sein schlichtes, winziges Kaffeehaus, das kaum mehr als dem Betreiber selbst Platz bot. Die Gäste hingegen tranken ihren Minze-duftenden Tee oder Kaffee unter freiem Himmel auf dem Marktplatz, sitzend auf niedrigen Hockern aus Holz und Bast, nicht höher als dreißig Zentimeter - unter dem Schatten eines gewaltigen Maulbeerbaums. Dieser Baum verlieh dem Café seinen Namen: „Qahwat at-Tuta“ - das Maulbeerbaum-Café -, auch „Qahwat al-Awwadin“ bekannt.
Bis in die Mitte der 1970er Jahre war der Platz Schauplatz wöchentlicher Treffen von Liebhabern des Ṭarab al-Malḥun. Jeden Freitag nach dem Nachmittagsgebet versammelten sie sich vor einem der mit Teppichen ausgelegten Läden zu einem Rezitationszirkel, in dem sie ihr musikalisch-poetisches Erbe feierten - bis zum Untergang der Sonne.
Östlich dieses Marktes verläuft ein weiterer Markt parallel: der Markt der Färber, Suq aṣ-Ṣabbaghin (سوق الصباغين). Von beiden Seiten - Osten wie Westen - blickt dieser Markt auf zwei von drei Brücken, die den Fluss überspannen, dessen Namen sich in den Quellen mehrfach wandeln: Wad Bu Khrareb (واد بوخرارب), Wad Fas, Wad al-Jawahir, oder auch Wad Bayn al-Mudun (Fluss zwischen den Städten). Diese Brücken verbanden das andalusische und das kairouanische Viertel. Ihre Namen: Qanṭarat aṣ-Ṣabbaghin, auch Qanṭarat aṭ-Ṭarrafin (قنطرة الطرافين) und Qanṭarat al-Khraschfiyyin (قنطرة الخراشفيين) genannt.
Einst färbten hier die Bottiche der Werkstätten Seide, Wolle, Tuch und feine Agavenfäden in begehrte Farben - in Vorbereitung auf deren kunstvolle Weiterverarbeitung durch die erfahrenen Hände der Weber und Schneider. Die Szenerie der Färber glich einem prachtvollen, fast mythischen Wandgemälde: Überall hingen Stoffbahnen - gefärbt, glänzend, in der Sonne trocknend -, auf langen Bambusstangen ausgebreitet, über Gassen gespannt. Farben strömten wie kleine Bäche aus dunklen Werkstätten, die in finsteren Winkeln verborgen lagen, gezeichnet in geheimnisvollen, verschlossenen Kammern, deren wahres Inneres sich dem Blick entzog. Männer mit von Farbstoffen getränkten Armen und Beinen bewegten sich dort - gezeichnet von ihrem Handwerk, das ihnen zur zweiten Haut geworden war.
Heute jedoch ist vom alten Glanz der Färber kaum mehr als ihr Name geblieben. Die einst legendäre Kunst ist nur noch ein matter Schatten ihres edlen Erbes, zur touristischen Folklore verkommen.
Mit der Verlagerung des Kupferhandwerks auf den Platz der Saḥat aṣ-Ṣeffarine wandelte sich dessen Bedeutung tiefgreifend - so sehr, dass sein Name schließlich auf die in seinem Umkreis gelegene Lehranstalt überging. Aus der ursprünglich als „Madrassat al-Ḥalfuyyin“ (مدرسة الحلفويين) bekannten Schule wurde fortan „Madrassat aṣ-Ṣeffarine“. Zu dem kulturellen Rang, den dieser Platz seither einnahm, gesellte sich bald die Bibliothek als ein weiteres Zeichen der Ehre: jenes gelehrte Haus, dem die Könige Marokkos mit größter Sorgfalt und Leidenschaft kostbare Bücher und Schriften aus den fernsten Winkeln der Welt zuzuführen suchten - ein Ausdruck ihres wissenschaftlichen Ehrgeizes und zugleich ein Zeugnis der Wertschätzung des Geistes.
Insbesondere seltene arabische Handschriften wurden herbeigeschafft und gesammelt, als wären sie Juwelen aus dem reichen Schatz des Weltwissens. So gehörte es etwa zu den Bedingungen des Waffenstillstandsvertrags, den Abu Yussuf Yaqub al-Marini (أبويوسف يعقوب المريني) im Jahr 1275 nach dem kastilischen Rückzug aus al-Andalus am Unterlauf des Guadalquivir in al-Andalus mit den Christen schloss, dass ihm die spanischen Christen all jene wissenschaftlichen Werke zurückerstatten mussten, die sie nach der Einnahme der muslimischen Städte Andalusiens beschlagnahmt hatten. Diese Werke, so seine Absicht, sollten in den Regalen von Fès nicht dem Vergessen anheimfallen, sondern der Erkenntnis dienen - den Händen der Studierenden und dem Scharfsinn der Gelehrten übergeben.
Von der Bibliothek aus verzweigen sich westwärts enge Gassen, die nach gegerbtem Leder duften und die mit allerlei modernen Schuhwaren und industriellen Erzeugnissen bestückt sind - ein Labyrinth aus Wegen und Winkeln, das sich in immer neuen Windungen fortspinnt. Die Szenerie gleicht einem Filmschauplatz in Vorbereitung: schwere Kupferkessel liegen umgestürzt, andere sind im Begriff, verlötet zu werden; eine Karre oder ein geduldiger Esel wartet, um Küchenutensilien zu einem Hochzeits- oder Beschneidungsfest, vielleicht gar zu einem Trauerhaus zu bringen. Rote Kupferteller, Koch- und Ziergefäße stehen zum Verkauf oder werden gerade gefertigt. Apparaturen zur Destillation von Rosen- und Orangenblütenwasser, aufgestellte metallene Kessel und al-Babur (Samova), sind überall auf dem Platz zu sehen.
Der vorübergehende Besucher fragt sich: Wem gehören all diese Dinge? Zu welchen Werkstätten zählen sie? Ein Mysterium, das sich dem Fremden entzieht. Und doch: Der Platz wirkt chaotisch, ja überbordend - aber hinter dieser scheinbaren Unordnung verbirgt sich ein eigener Rhythmus, eine innere Ordnung, die nicht das Auge, sondern allein die Sinne zu erfassen vermögen. Die Werkstätten liegen wie Höhlen im Halbdunkel, spärlich beleuchtet, verschlossen wie Schatzkammern, deren Innerstes sich nicht enthüllen will.
Vor ihren Eingängen sitzen Handwerker - von kindlichem Alter bis hin zu ehrwürdiger Greisenhaftigkeit -, meist allein oder zu zweit, und schlagen mit Hämmern gleichmäßige Rhythmen auf Kupferplatten. Die Klänge, mal dumpf, mal hell, hallen über den Platz wie ein vielstimmiger Gesang. Doch stören sie nicht - im Gegenteil: Sie werden von den Vorübergehenden aufgenommen wie eine stille Begleitung ihres Gangs, fast als würde der Platz mit ihnen weiterwandern.
Der Geist des Ortes: Stille, Wissen und Geschichte
Wer die dunkle Passage Tariq Sba Luwyat (طريق سبع لويات) verlässt - jenen schmalen Weg, der aus dem Westen der Stadt herabführt -, tritt hinaus auf einen Platz, der unmittelbar der Sonne und dem Regen ausgesetzt ist. Zur Rechten liegt Farran Sba Luwyat, nicht nur die älteste Backstube der Stadt Fès, sondern sogar älter als die Gründung der Qarawiyyin-Moschee selbst, die ins Jahr 859 zurückreicht. Alte Urkunden belegen, dass seine Einkünfte dem Qaḍi zur Verfügung standen, um sie an Bedürftige und Arme zu verteilen.
Zur Rechten liegt auch der Brunnen, gefolgt vom Stadttor Bab al-Ḥududi (باب الحدودي) und sodann der Haupteingang zur Qarawiyyin-Bibliothek. Sobald man diesen architektonischen Edelstein im maurisch-andalusischen Stil betritt, umfängt einen ein wohlkomponiertes Zusammenspiel aus Mosaiken und kunstvoll geschnitztem Holz, meisterlich gearbeitet, ohne Übermaß und ohne Kargheit. Kaum hat man die Schwelle zur Empfangshalle überschritten, verstummen die Hammerschläge; das Tosen und Hämmern bleibt draußen zurück - nur ein fernes Echo verweilt. Man tritt ein in einen Raum der Stille, der Andacht. Der Flüsterton wird hier zur eigentlichen Sprache; ein geistiges, kulturelles, ja spirituelles Reich eröffnet sich.
Es beginnt die Reise durch die Welt der Geistes- und Religionswissenschaften, wie sie die Regale und Wände dieses Hauses mit ehrfürchtiger Fülle erfüllen. Hier bewahrt man die Erinnerung an große Gelehrte, die das Denken der Menschheit prägten: Ibn Ṭufayl, Ibn Bajja, Ibn Rushd, Ibn Khaldun und viele andere.
Je tiefer der Mensch in dieses Meer aus Blättern und Pergamenten vordringt, desto deutlicher steigt ihm der feine, unverkennbare Duft von Tinte in die Nase - der Duft seltener Manuskripte, deren Einmaligkeit dieser Bibliothek einen Rang verleiht, den kaum ein anderes Archiv der Welt zu erreichen vermag. Hier ruht etwa eine koranische Handschrift aus dem 9. Jahrhundert, sorgsam auf Gazellenhaut niedergeschrieben, oder jenes einzigartige medizinische Lehrgedicht Ibn Ṭufayls, bekannt als al-Urjuza (الارجوزة), das als einziges Exemplar weltweit erhalten geblieben ist und aus dem 12. Jahrhundert stammt. Ebenso bewahrt diese Schatzkammer der Schrift das Werk as-Ṣiigh (الصيغ) von Abu Isḥaq al-Fizari (ابي اسحاق الفزاري) aus dem 2. islamischen Jahrhundert (8. Jh. n. Chr.), sowie eine Ausgabe der Muqaddima Ibn Ḫaldūns - nicht irgendein Exemplar, sondern jenes, das aus der Hand des Autors selbst stammt, als persönliche Gabe an diese ehrwürdige Institution.
Eine Bibliothek von Weltrang
Seit ihrer Gründung zeichnet sich diese Bibliothek nicht nur durch ihren Buchbestand aus, sondern auch durch ihre architektonische Pracht. Die Saadier (1510-1659) erweiterten sie um eine Kuppelhalle. König Mohammed V. (1927-1961) fügte ihr einen weiteren Flügel für die Alawiten-Dynastie hinzu. Die Sultane wetteiferten in der Zueignung edelster Werke der Wissenschaft und Dichtung, auf dass die Bibliothek der schönste Schmuck ihrer Zeit und der glanzvollste Ausdruck ihrer Herrschaft sei.
So wie die Qarawiyyin-Universität als die älteste Hochschule der Welt gilt, so war der Ort, an dem sich später ihre Bibliothek erheben sollte, schon zuvor von größter Bedeutung: Hier befand sich einst die wohl älteste Bank, die die Menschheit je gekannt hat. Aufgrund der gewaltigen Summen, die durch fromme Stiftungen in die Kasse der Ahbas al-Qarawiyyin (خزينة احباس القرويين) strömten, sah man sich im 12. Jahrhundert veranlasst, eine Schatzkammer zu errichten - zur sicheren Verwahrung jener Gelder, die bald schon die Einkünfte des Staates selbst an Bedeutung übertrafen.
Madrassat aṣ-Ṣeffarine: Ein Zuhause für kluge Köpfe
Dass diese Bibliothek genau hier gegründet wurde - an jenem Ort, der sich als natürliche Erweiterung der Qarawiyyin-Universität versteht - war keineswegs dem Zufall geschuldet. Sie befindet sich gegenüber der ersten wissenschaftlichen Lehranstalt von Fès, einem Internat für Studierende, das von der Almoraviden-Dynastie (1056-1147) ins Leben gerufen wurde: Madrassat al-Ḥalfuyyin (مدرسة الحلفوين). Diese Schule unterscheidet sich von allen später errichteten Anstalten durch die schlichte, schmucklose Bauweise, die im Einklang steht mit den Idealen und dem asketischen Geist der frühen Almoraviden-Herrschaft.
Erneuert wurde das Gebäude im Jahr 1320 durch Yaqub al-Marini (يعقوب المريني) (1212-1286). Einen weiteren Zugang erhielt es durch die al-Madrasat al-Muḥammadiya (المدرسة المحمدية), deren Fenster zum „Fluss zwischen den Städten“ hin geöffnet sind, mit einem Eingang nahe der Qanṭarat al-Khraschfiyyin (قنطرة الخراشفيين) - der Brücke der Korbflechter. Dieses Gebäude wurde von König Mouḥammed V. im Jahre 1940 errichtet.
Die Madrassat aṣ-Ṣeffarine diente als Unterkunft für besonders begabte Studenten, von denen manche eine bedeutende Rolle im Kampf gegen den europäischen Kolonialismus spielten. Zu den berühmtesten unter ihnen zählt der Freiheitskämpfer Mohammed Ibn Abd al-Krim al-Khaṭṭabi (محمد ابن عبد الكريم الخطابي), der während seiner Studienzeit an der Qarawiyyin in diesen Mauern lebte.
Bäume, Kultur und Erinnerungen
Die Saḥat aṣ-Ṣeffarine, der Platz vor der Bibliothek, war einst von Bäumen geschmückt - bis in jüngste Zeit standen dort noch drei prächtige Exemplare. Doch angesichts des unermüdlichen Treibens, das diesen Ort als Scharnier zwischen zahlreichen Stadtvierteln kennzeichnet, wurden zwei dieser Bäume entfernt. Heute ragt nur noch einer, unerschütterlich und ehrwürdig, am Rande des Platzes empor.
Als die amerikanische Schriftstellerin Anaïs Nin im Jahre 1966 zum zweiten Mal Fès besuchte, erinnerte sie sich später in ihrem Werk In Favor of the Sensitive Man and Other Essays an diesen Platz, der sich seit ihrer ersten Reise im Jahr 1936 merklich verändert hatte. Sie schrieb: „Ich beklagte den Feigenbaum, der aus dem Platz vor der Bibliothek herausgerissen worden war - jenen Baum, unter dem sich einst die Studenten versammelten, um miteinander zu disputieren, ihre Gedichte vorzutragen und sie dann an den Ästen des Baumes aufzuhängen, damit die Vorübergehenden sie lesen und beurteilen konnten.“
Der Feigenbaum - wie auch seine Geschwister - ist verschwunden. Und doch ist der Platz geblieben: eine Pilgerstätte für Einheimische wie für marokkanische und ausländische Besucher. Denn seine Umgebung birgt einen überaus reichen Schatz an historischen Zeugnissen und Erinnerungsorten.
Sein öffentliches Bad etwa besitzt ein Merkmal, das nur wenige Hammams in der Altstadt teilen: Es beherbergt in ein- und derselben Anlage zwei getrennte Bäder - eines für Männer, das andere für Frauen. Die meisten anderen Badehäuser hingegen teilen sich diese Funktion in zeitlich wechselnder Nutzung.
Der Saḥat aṣ-Ṣeffarine erlebte im Laufe der Jahre verschiedenste Wandlungen. Einmal diente er als offener Markt für gebrauchte Kleidung, ein andermal als Werbefläche für die Filme, die in den Lichtspielhäusern der Stadt liefen. Allabendlich jedoch wurde er zur Bühne lebendiger Unterhaltung: Hier traten Geschichtenerzähler (Al-Hakawatiyun) auf, ließ sich eine Runde des Ṭarab al-Malḥun nieder oder ein Zauberkünstler, und auch andere Formen der volkstümlichen Darbietung fanden hier statt.
Zwischen den beiden Wahrzeichen des Platzes - der Schule und der Bibliothek - breiteten sich jene abendlichen Runden aus, durch die das mündliche Erbe von Fès bewahrt wurde: Volkserzählungen, Gedichte, Alltagsweisheiten. Es war, als stünde dieser mündliche Schatz im freundschaftlichen Wettstreit mit der Schule und der Bibliothek - jenen Bewahrern des schriftlichen, des gelehrten Wissens.
Über Idriss Al-Jay
Übersetzung aus dem Arabischen