Innere Landschaften - Wo Worte versagen, beginnt die Linie
„Von klein auf war ich auf der Suche nach dem, was mich bewegt, was ein Feuer in mir entfacht“, sagt Hanane Arohel. Nicht die Jagd nach Ruhm oder Bestätigung treibt sie an, sondern die Sehnsucht nach jenem kaum greifbaren Funken, der das Innere erhellt und den Menschen mit sich selbst versöhnt.
Hanane Arohel, eine junge Künstlerin aus Marokko, hat diese Suche zur Lebensaufgabe gemacht. Ihr Weg zur Kunst ist keine gerade Linie, sondern eine zarte, oft schmerzhafte Spur der Selbstwerdung - und führte sie schließlich in die stille Küstenstadt Essaouira, wo ihre erste Einzelausstellung entstand.
Zeichnen wurde für sie früh zur existenziellen Ausdrucksform - nicht nur Medium der Kreativität, sondern ein Überlebenswerkzeug. „Die Kunst war meine Sprache, bevor ich Worte verstand.“
1997 in Casablanca geboren, beginnt sie bereits im Alter von sechs Jahren zu zeichnen. Ihre Leidenschaft für angewandte Kunst führt sie an die renommierte École des Beaux-Arts, doch familiäre und finanzielle Umstände zwingen sie zur Unterbrechung des Studiums. Statt Resignation folgt ein neuer Pfad: Sie beginnt, bei Global Art zu unterrichten - und findet im Weitergeben auch einen neuen Zugang zu sich selbst. „Zu sehen, wie Kunst andere stärkt, hat auch mich verändert.“
Mit Anfang zwanzig trifft sie eine radikale Entscheidung: den Umzug nach Essaouira - ohne Plan, aber mit einem tiefen inneren Ruf. „Ich wollte nicht mehr in einer Welt funktionieren, die mich überfordert. Ich brauchte einen Ort, der atmet wie ich: ruhig, weit, intuitiv.“
Essaouira - die Stadt des Windes, der weißen Mauern und blauen Fensterrahmen - wird zu ihrem Rückzugsort. Doch nicht zur Flucht. Vielmehr zum Raum der Wandlung. Hier, inmitten von Licht und Meer, entstehen Werke, die roh und surreal sind, oft dunkel, doch niemals kalt. Keine Abbilder der äußeren Welt, sondern Spiegelungen psychischer Landschaften. Ihre Bilder sprechen in Formen, die sich auflösen, verdichten, verweigern. Sie zeigen emotionale Zustände, Fragmentierungen, zärtliche Verletzlichkeit. „Ich male nicht, was ich sehe - ich male, was ich nicht aussprechen kann“, sagt sie. „Und manchmal verstehe ich es erst, wenn das Bild fertig ist.“
Mit ihrer ersten Ausstellung wird sie sichtbar - nicht laut, sondern in einer stillen Dringlichkeit, die nachhallt. Und in einer Stadt, die selbst zur Leinwand geworden ist. Denn Essaouira zieht seit Jahren Künstler:innen an, die sich zwischen Atlantiklicht, kollektiver Erinnerung und individueller Befreiung verorten. Zwischen jahrhundertealten Mauern, Jazzklängen, Wind und Stille entsteht hier ein Dialog - auch über das Frausein, das Verletzlichsein, das Anderssein. Hanane Arohel ist Teil dieser Bewegung. Eine zurückhaltende, aber unüberhörbare Stimme.
Künstlerische Praxis
Hanane Arohels Werke sind geprägt von emotionaler Tiefenschärfe, psychologischer Aufladung und intuitiver Formgebung. In ihren meist abstrakten und surrealen Gemälden verzichtet sie bewusst auf narrative Lesbarkeit. Sie malt nicht das Sichtbare, sondern das Verborgene: innere Spannungsfelder, Zerrissenheit, Sehnsucht - Fragmente seelischer Erfahrung.
Arohels Bildsprache ist radikal subjektiv und zugleich universell. Sie arbeitet mit anatomischen Motiven, psychologischen Metaphern und surrealer Symbolik. Nichts in ihren Zeichnungen ist dekorativ - alles ist Ausdruck, Verdichtung, Spur.
Formal bewegt sie sich zwischen klassischem Zeichenstil, surrealer Dichte und psychologischer Illustration. Ihre Arbeiten sind überwiegend monochrom, mit gezielten Farbeinsätzen - meist dort, wo es um Herz, Blut, Schmerz geht. Ihr Ausdruck ist roh, konzentriert, entschleunigt - als wolle sie dem Lärm der Welt mit Tiefe begegnen.
Hanane Arohels Kunst ist keine bloße Reaktion auf die Welt. Sie ist eine Einladung zur Innenschau, zur Konfrontation mit dem, was oft unausgesprochen bleibt. Zwischen innerem Exil und künstlerischer Befreiung schafft sie Werke, die lange nachwirken - leise, eindringlich, kompromisslos.
Arbeiten von Hanane Arohel:
Schatten, 2024
Drei miteinander verknüpfte Gestalten - ein Auge als Kopf, ein dämonisches Grinsen, ein Schatten mit eigenem Gesicht. Hanane Arohel hinterfragt in dieser düsteren Allegorie das Verhältnis zum eigenen Selbst: Was, wenn wir nicht vor äußeren Monstern fliehen - sondern vor jenen in uns selbst?
In „Schatten“ verdichtet sich Hanane Arohels künstlerischer Kosmos zu einer beunruhigenden Chiffre: Eine humanoide Figur mit Augenhaupt trägt auf ihrer Schulter eine teuflisch grinsende Kreatur, während ihr Schatten sich ebenfalls als Fratze offenbart. Es ist ein Bild der doppelten Projektion - und eine Frage nach der Herkunft des Schreckens.
„Ein alter Mann, der vor seinem eigenen Schatten davonlief - das war der Auslöser“, sagt die Künstlerin. „Ich fragte mich: Fliehen wir manchmal vor Anteilen in uns selbst, die wir nicht erkennen wollen?“ Die Antwort liegt nicht im Motiv, sondern in dessen Unauflösbarkeit: Die scheinbar äußere Bedrohung ist ein Echo des Inneren. Es geht nicht um Dämonen - es geht um Nähe, Bindung, Identifikation. Vielleicht ist es kein Feind, vor dem wir fliehen. Vielleicht ist es ein Teil von uns, den wir lieben - obwohl er uns zerstört.
Endlose Liebe, 2024
Ein Herz, umwunden von einer Schlange, die in einen Arm beißt - die Hand aber hält einen Stift. Hanane Arohel schafft ein kraftvolles Sinnbild für den künstlerischen Prozess: Schmerz wird nicht nur erlitten, sondern gezeichnet, verdichtet, transformiert.
In „Endlose Liebe“ verdichtet sich Hanane Arohels künstlerisches Selbstverständnis zur Allegorie: Ein anatomisch präzise gezeichnetes Herz wird von einer Schlange umschlungen, deren Biss in einen Arm übergeht - eine geschlossene Spirale aus Gefühl, Verletzung und Ausdruck. Die Hand, trotz Schmerz, hält unbeirrt einen Stift.
„Das Werk erzählt die Geschichte einer stillen, unerwiderten Liebe“, sagt Arohel. „Der Schmerz findet seinen Weg in die Kunst. Die Hand schreibt, was das Herz nicht sagen konnte.“ Hier wird Kunst nicht bloß zum Ventil, sondern zur sublimierten Form innerer Wahrheit. Die Schlange - oft Symbol für Gefahr, Verführung oder Erkenntnis - ist nicht bloß ein Angreifer, sondern integraler Teil des Kreislaufs. Nur wer verwundet ist, kann schöpferisch bezeugen. Nur was durch den Stift geht, wird überlebbar.
Dopprltippen, 2024
Zwei Augäpfel, verwachsen mit blutenden Herzen - ein verstörend-poetisches Sinnbild der digitalen Gegenwart. Hanane Arohel zeigt, wie der mediale Blick das Gefühl überformt - und wie viel Schmerz hinter vermeintlichem Fortschritt lauert.
In „Dopprltippen“ verbindet Hanane Arohel anatomische Symbolik mit einer radikalen Kritik am digitalen Zeitalter. Zwei Augen - weit geöffnet - sind mit Herzen verwurzelt, durchbohrt, blutend. Aus den Augen fließen keine Tränen, sondern die stummen Spuren emotionaler Auszehrung.
„Wir scrollen, wir vergleichen - und merken nicht, wie viel Schmerz das erzeugt“, sagt die Künstlerin. „Dieses Bild ist mein stiller Aufschrei gegen diese Selbstentfremdung.“ Hier zeigt sich Arohels Fähigkeit, kollektive Erfahrungen in surrealistische Bildwelten zu übersetzen: Die Augen blicken nicht hinaus, sondern hinein - in ein Inneres, das durch Reizüberflutung und digitale Spiegelung zunehmend verletzt erscheint. Arohel verwandelt diese Diagnose in stille, aber kraftvolle Bildsprache.