Im Takt der Erinnerung - Zwischen Karyan Central und dem Rhein
Nass El Ghiwane (ناس الغيوان) - aus dem Armenviertel Hay Mohammadi in Casablanca hervorgegangen, erhoben sie in den 1970er-Jahren die Stimmen der Straße zu Liedern. Ihre Musik war kein Rückzug, sondern ein Aufbegehren - poetisch verdichtet, politisch aufgeladen, tief im Volksgedächtnis verwurzelt.
Jahrzehnte später, fern im Exil, folgt ein Marokkaner dem Echo dieser Stimmen - und findet in ihren Klängen den Weg zurück zu sich selbst. Eine Geschichte davon, wie Erinnerung nicht verklärt, sondern lebendig vibriert - zwischen Herkunft und Gegenwart, zwischen Süden und Norden.
Mustafa, die zentrale Figur dieser Erzählung, wächst, so wie Nass el Ghiwane in dem Armenviertel Hay Mohammadi auf - einem Milieu, das von Mangel ebenso geprägt ist wie von Zusammenhalt und einer einzigartigen musikalischen Ausdruckskraft.
Die Lieder von Nass El Ghiwane durchziehen seine Kindheit wie ein unsichtbarer Klangteppich: Sie erklingen in den Gassen, zwischen Teegläsern, auf den Lippen der Älteren - als Begleitung und Widerhall des Alltags. Die Musiker der Gruppe verweben traditionelle Sufi-Poesie mit politischer Klarheit, improvisierter Melodik und der rauen Sprache der Straße.
Für eine ganze Generation junger, übersehener Marokkaner der 1970er-Jahre werden sie zur Stimme, die das ausdrückt, wofür es sonst keine Worte gibt. Sie sind keine Idole der Popkultur - sie sind Chronisten eines verletzten Landes.
Mustafa verlässt Marokko in den 1990er-Jahren, um in Deutschland Ingenieur zu werden. Er lebt in Düsseldorf, spricht perfektes Deutsch, plant Brücken, Hochhäuser, Verkehrsnetze. Doch die Musik seiner Kindheit lässt ihn nicht los. Irgendwann beginnt er zu spielen - zunächst allein, dann gemeinsam mit einer deutschen Band.
Was folgt, ist kein Nostalgieprojekt. Mustafa rekonstruiert keine verklärte Vergangenheit, sondern versucht, das Unsichtbare sichtbar zu machen: die Würde eines vergessenen Viertels, die Schönheit eines kämpferischen Liedes, den Rhythmus eines Lebensgefühls, das kein Pass und kein Integrationskurs ersetzen kann.
In „Zentral-Gedächtnis“, einem Musiktheaterprojekt zwischen zwei Welten, bringt er traditionelle marokkanische Klänge in Dialog mit westlicher Musik - und macht spürbar, was es bedeutet, sich selbst zwischen den Kulturen wiederzufinden.
Diese Geschichte ist keine einfache Migrationsbiografie. Sie ist ein poetischer Versuch, Erinnerung nicht als Stillstand zu zeigen, sondern als Bewegung. Eine Bewegung, die mit einem einzigen Trommelschlag beginnt.
Zwischen Karyan Central und Rhein - Eine Reise durch den Ghiwane-Geist
Von Mounir Lougmani, aus dem Roman „Die Seele der Tamaghrabit“
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In einer engen Gasse des Hay Mohammadi - zwischen Mauern, die vom Zahn der Zeit gezeichnet waren, begleitet von Erinnerungen, die noch das Echo der kleinen Rahmentrommel (Dadou‘) in sich trugen und vom Duft der Minze aus dem abendlichen Tee durchzogen waren -, kam Mustafa zur Welt.
Mustafa war nicht wie die anderen Jungen im Viertel, die den ganzen Nachmittag dem Ball hinterherjagten oder den Holzwagen der Händler durch die Straßen nachliefen. Er war still - auf eine feine, würdevolle Weise. Er hörte dem Unsichtbaren zu und blickte in die kleinen Dinge der Welt, als sähe er darin geheime Zeichen.
Er wusste noch nicht, dass er einmal Ingenieur werden würde. Noch weniger ahnte er, dass ein fernes Land wie Deutschland seine Seele so sehr berühren würde. Aber tief in ihm lebte etwas, das wie eine verborgene Saite war - aufgespannt zwischen seinem Herzen und dem Boden des Armenviertels (Karyan Central), in dem er aufwuchs. Und jedes Mal, wenn der Wind durch die engen Gassen wehte und ein Hauch der alten Lieder ihn berührte, begann diese Saite in ihm zu schwingen - als rührte sich etwas Ghiwanisches in seinem Innersten.
Alles in Karyan Central schien von einer schlummernden Begabung durchdrungen zu sein: der Staub, der über allem lag; die alltäglichen Rituale der Bewohner; die Frauen, die am Abend alte Volkslieder sangen, während sie auf dem Boden Gemüse schnitten; die Männer, die beim Tragen schwerer Zementsäcke Lieder anstimmten - Lieder des Widerstands, voller Kraft. Sogar das Schweigen in diesen Gassen hatte einen Klang. Es war ein Schweigen, das mitschwang, als gehörte es zur Musik.
Mustafa - schmächtig, mit wachem, tiefem Blick - sah in Nass El Ghiwane mehr als nur eine Musikgruppe. Für ihn waren sie ein Ritus. Ein Gesang, der mehr war als Worte. Ein geheimes Gebet, das im Alltag mitschwang.
Boujmia, einer der Sänger, war für ihn die Stimme der Vergessenen - er sprach in ihrer Sprache, und seine Melodien schienen ihre Wunden zu trösten.
Dort, inmitten von alten Sardinendosen und rostigen Blechen, zwischen Liedfetzen aus einem Radio mit krächzendem Lautsprecher, begann Mustafas erstes geheimes Theater. Es war ein unsichtbares Bühnenstück, das nur er sehen konnte - begleitet vom Flattern der kleinen Trommel (Dadou‘), wenn sie in einem rituellen Rhythmus geschlagen wurde, der nur aus Sehnsucht gemacht war.
Düsseldorf ist nicht wie das Viertel
Der Abschied vom Hay Mohammadi war alles andere als leicht. In seinen Koffer legte er seine Ingenieurbücher. Doch das, was wirklich schwer wog, trug er in der Brust: das Lied „Erheb dich und lass los“ (ʿAlli w Khalli) - ein Aufbruchslied, das klingt wie ein letzter Blick zurück.
Er bestieg das Flugzeug nach Düsseldorf - in eine Stadt, die keine Ahnung hat vom Mrah: jenem ausgelassenen, sehnsuchtsvollen Rhythmus, der auf den Bordsteinen von Casablanca getanzt und gesungen wird.
In seinen ersten Tagen dort ging Mustafa verloren - in den makellos stillen Straßen, die geordnet waren wie ein Uhrwerk, aber ohne Herzschlag. Der deutsche Lärm, so kontrolliert und sachlich, war ihm fremd - ganz anders als das lebendige Stimmengewirr der Kinder im Karyan Central, wo jedes Wort ein Spiel, jeder Ruf ein Teil des Tagesrituals war.
Selbst das Schweigen hier klang anders - distanziert, frostig. Nicht wie das Schweigen seiner Mutter, wenn sie beim Couscouskochen schwieg: ein Schweigen, durchdrungen vom Duft der Minze und den Klängen Boujmias, die leise aus dem Radio flossen wie eine ferne, innere Stimme.
An der Universität glänzte Mustafa in der Ingenieurskunst - als baute er Brücken zwischen zwei Welten: Zwischen dem harten Boden der staubigen Plätze, auf denen er gespielt hatte, und den präzisen, technischen Plänen aus Beton und Stahl.
Doch er war mehr als ein talentierter Student. Er war ein Künstler im Verborgenen - ein Suchender. In den Formeln suchte er nicht nur Konstruktionen, sondern auch ein Gefühl, das keine Skizze messen konnte: Die Wärme, die eine Melodie im Körper hinterlässt.
In Düsseldorf begegnete er einer deutschen Musikgruppe namens Tibet. Ihre Klänge hatten etwas Fremdes - und doch Vertrautes. Irgendetwas darin erinnerte ihn an die Welt von Nass El Ghiwane: dieselbe Tiefe, derselbe Ruf aus dem Inneren - aber mit anderen Tönen, anderen Instrumenten, weiterem Horizont. Er war fasziniert von ihrem Klangexperiment: Gitarre und östliche Gesänge verschmolzen zu einem neuen, eigensinnigen Lied. In ihrer Musik glaubte er manchmal ein fernes Echo jener alten Gebete zu hören, die früher in spirituellen Versammlungen gesungen wurden.
Eines Abends schlug Mustafa der Band ein Projekt vor, das für sie zuerst verrückt klang: Ein Musiktheaterstück, das die Offenheit von Nass El Ghiwane mit der Klangwelt von Tibet vereinen sollte. Sie lachten - bis Mustafa ihnen das Lied „Wohin führst du mich, Bruder?“ (Fin Ghadi Biya Khoya) vorspielte. Dann wurden sie still. Und hörten zu.
Ab diesem Moment begann Mustafa, seinen Traum zu formen - nicht auf Papier, sondern im Ohr jedes Menschen, der bereit war, ihm zu lauschen.
Eine Bühne ohne Vorhang
Die Nächte in Deutschland waren lang, kalt und still - wie verschlossene Bücher. Doch Mustafa machte aus ihnen seine eigene Bühne. Kein Ort mit Scheinwerfern oder Vorhängen, sondern ein heimliches Theater in seinem Zimmer, das nur für ihn selbst spielte. Er stellte sich vor die kahlen Wände seines kleinen Raumes, als wären sie das Publikum aus dem Viertel seiner Kindheit. Er hob die Hand, schwieg einen Moment - und schlug auf eine unsichtbare Rahmentrommel (Dadou‘), während in seinem Innern die Erinnerungen blätterten wie die Seiten eines alten Ghiwane-Liedes.
Sein erster öffentlicher Auftritt fand nicht auf einer großen Bühne statt. Es war ein einfacher Kellerraum in Düsseldorf, ein Kulturzentrum mit wackeligen Stühlen und gemischtem Publikum: blasse europäische Gesichter, Araber, die sich in der Fremde verloren fühlten.
Mustafa löschte das Licht - und das Spiel begann. Zuerst erklang ein Instrumentalstück der Band Tibet. Dann mischte sich die Musik mit den deutschen Übersetzungen der Ghiwane-Texte - zum Beispiel aus dem Lied „Mahmouma“ (Die Bekümmerte). Und dann trat Mustafas Stimme hinzu: Er erzählte die Geschichte seines Viertels. Er las nicht ab - er sprach mit dem Herzen, so wie früher die alten Männer vor dem Backofen in der Gasse Geschichten erzählten. Und das Publikum spürte es. Es war, als würde etwas Altes, Tieferes neu geboren. Die Musik von Nass El Ghiwane kam zurück - nicht als Kopie, sondern als Echo im Klang moderner Instrumente: über das Keyboard, begleitet vom Saitenspiel der Sitar.
Mustafa erzählte vom Marktverkäufer, in dessen Auge eine Träne stand, von den Arbeitern der Ölfabrik, die um ihre Würde kämpften, von den Kindern, die einst auf einem Platz ohne Mikrofon sangen - und deren Stimmen trotzdem alles erfüllten.
Ein deutscher Mann im Publikum weinte. Ein junger Palästinenser klatschte mit leuchtenden Augen. Und Mustafa? Er drehte sich am Ende von der Bühne weg - so wie ein Schauspieler, der fühlt, dass er gesagt hat, was gesagt werden musste. Und dann ging er.
Der Kompass der Ghiwane
An einem grauen Wintermorgen in Düsseldorf saß Mustafa in einem kleinen Café am Rhein. Vor ihm lag sein Notizbuch - voll mit Skizzen, Ideen und Gedanken. Er blätterte darin wie ein Archäologe, der in alten Schichten nach einem verschütteten Geheimnis gräbt. Etwas fehlte. Ein Ton. Ein Abdruck. Ein Schatten vielleicht, der noch nicht ganz Form angenommen hatte. Und dann kam es ihm: Ein Name, der nie aus seinem Innersten verschwunden war: „Die Trommel von Boujmia“.
Es ging nicht nur um ein Instrument. Diese Trommel war ein Symbol - ein Klang, der wie aus dem Boden selbst wuchs. Sie trug das Zittern des Protests in sich und zugleich die Reinheit eines spirituellen Rituals. In diesem Moment traf Mustafa eine Entscheidung, die für ihn unausweichlich war: Er musste zurückkehren. Nicht nur nach Marokko - sondern zurück zu den Wurzeln, zurück ins Armenviertel (Karyan Central), dorthin, wo seine Geschichte begonnen hatte - wo sie noch nicht zu Ende erzählt war.
Er packte seinen Koffer - nicht wie ein Reisender, sondern wie ein Dichter, der seine alten Manuskripte mitnimmt. Mit derselben Sehnsucht wie einst die Musiker von Nass El Ghiwane, als sie das erste Mal die Bühne betraten, kehrte er nach Casablanca zurück.
Doch das Viertel war nicht mehr dasselbe. Ein Teil war in Trümmern, der andere in Vergessenheit gehüllt. Aber Mustafa suchte keine Häuser - er suchte den Klang. Er ging durch die Gassen, fragte die Alten nach Boujmia, nach dem dreisaitigen Bassinstrument, nach den Straßenkonzerten, bei denen Musik Brot und Waffe zugleich war.
Eines Abends setzte er sich neben einen alten Mann - Abdelkader Zemmouri, den alle nur „den Weisen der Gasse“ nannten. Er hatte alles miterlebt. Mustafa fragte nach der Trommel. Und der Alte antwortete mit einem Lächeln: „Die Trommel, die dein Herz sucht - die ist noch da. Aber nicht auf dem Markt. Sie ist im Herzen derer, die sich noch an die Worte erinnern.“ Mustafa lachte - ein Lachen, in dem eine Träne zitterte.
Zwischen den Fingern der Zeit
Die Gasse war noch da - wenn auch ihre Farben verblasst und manche Mauern eingestürzt waren. Mustafa ging langsam durch das Viertel Karyan Central, und es war, als lauschte er nicht nur der Stille - sondern einem unsichtbaren Echo. Er hörte sie: Die Gassen sprachen zu ihm. Jeder Stein schien einen Ton zu bewahren, jeder verrostete Türklopfer hatte einmal einen Klang eingelassen, jede Tür war vielleicht einst geöffnet worden - für eine warme, uralte Melodie der Nass El Ghiwane.
Mustafa blieb vor einem alten Haus stehen. Man erzählte, Boujmia habe hier einst in einer Sommernacht seine Trommel geschlagen - die kleine Rahmentrommel, deren Klang wie ein Schrei begann, sich dann in ein Stöhnen verwandelte und schließlich zurückkam wie ein leiser Hauch auf der Haut - als würde ein Eingeweihter flüstern.
Er klopfte an. Eine Frau mit müdem Gesicht, aber freundlichem Lächeln öffnete die Tür. Nach einem kurzen Gespräch sagte sie: „Die Trommel, die du suchst… sie ist hier. Aber sie ist schwer. Nicht nur aus Metall - sie trägt Geschichte.“
Mustafa trat ein. Dort lag sie - auf einem alten Regal aus Holz: die Trommel, als schliefe sie seit Jahren. Mit einer Mischung aus Scheu und Ehrfurcht streckte Mustafa die Hand aus. Und als er sie berührte, durchfuhr ihn ein elektrisches Gefühl - als hätte er einen verlorenen Teil seiner selbst wiedergefunden. Er nahm sie vorsichtig in die Arme - wie man ein Kind trägt, und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Denn wer etwas findet, das er für immer verloren glaubte, blickt nicht zurück.
In dieser Nacht schlief Mustafa nicht. Er spielte die Trommel - nicht wie ein Musiker, sondern wie jemand, der eine Stadt aufwecken will. Und es war, als ob die Stimmen der Ghiwane aus den Tiefen der Erinnerung aufstiegen und nun durch die Gassen tanzten. Zum ersten Mal hatte Mustafa das Gefühl: Sein Projekt war vollständig.
Von Karyan centrale zum Rhein
Am Tag nach seiner Rückkehr suchte Mustafa das Café España auf - ein schlichtes Lokal im Herzen des Hay Mohammadi, in dem einst wandernde Dichter ihre Verse hinterließen und Künstler ihre Träume im aufsteigenden Rauch verloren. Mit dem Dadou‘ - der kleinen, rituellen Rahmentrommel - unter dem Arm betrat er das Lokal. In diesem Moment schien sich die Zeit zu verdichten: Jahrzehnte aus Liedern, Kämpfen und Sehnsüchten versammelten sich schweigend in seinem Schritt.
Ein junger Mann namens Abdelhaq, ein neugieriger Liebhaber der Musik von Nass El Ghiwane aus der jüngeren Generation, setzte sich zu ihm und fragte nach der Trommel. Mustafa antwortete schlicht: „Das ist kein Instrument - das ist Erinnerung, Waffe und Saite zugleich. Und sie schwingt nur im Herzen.“ Dann begann er zu spielen. Erst leise, beinahe tastend, dann mit wachsender Intensität, die an die Tage des politischen Aufbegehrens erinnerte. Die Atmosphäre im Café veränderte sich: Es war kein Konzert, sondern ein kollektives Erinnerungsritual. Selbst der Kellner stellte sein Tablett ab und lauschte.
Die Luft war durchdrungen von den Klängen und Worten der Ghiwane:
- „Allah ya Moulana“ (الله يا مولانا) „O Allah, unser Gebieter“
- „ʿAlli w Khalli“ (عَلِّي وخَلِّي) „Erheb dich und lass los“,
- „Fin Ghadi Biya Khoya?“ (فِين غَادِي بِيّا خُويَا؟) „Wohin bringst du mich, Bruder?“.…
- „Ghir khodouni (غِير خُذُونِي) „Nehmt mich mit“,
- „Mahmouma (مَهمُومَة) „Die Bekümmerte“
- „Siniya (الصينية) „Das Tablett“
Diese Lieder erklangen nicht nur - sie erfüllten den Raum wie eine geteilte Vergangenheit. Als Mustafa später nach Deutschland zurückkehrte, trug er den Dadou’ zwar in seinem Koffer, aber in seinem Inneren war etwas viel Größeres gewachsen: die Idee für ein Musiktheater, das den Namen „Zentral-Gedächtnis“ tragen sollte - ein Projekt, in dem sich die Nass el Ghiwane-Lieder, die Klangwelten der Band Tibet und der verlorene Geist seines Viertels begegnen würden.
Als er wieder die Bühne in Düsseldorf betrat, war nichts mehr wie zuvor. Weder die Bühne noch das Publikum. Als er den Dadou’ hervornahm und anschlug, war der Klang mehr als nur ein Ton: Es war das Erzittern einer unsichtbaren Heimat - spürbar zwischen den Wänden, in den Blicken, im Rhythmus der Stille.
Das Zentral-Gedächtnis
Die Bühne in Düsseldorf hatte so einen Klang noch nie gehört. Als der Dadou‘, diese kleine, handgeschlagene Rahmentrommel, im Eröffnungsabend von „Zentral-Gedächtnis“ ertönte, schien es, als würde das perfekte deutsche Schallschutzdesign der Halle für einen Moment aufbrechen. Die Mauern öffneten sich nicht nach außen - sondern in die Tiefe: in eine Gasse des ehemaligen Armenviertels (Karyan Central) von Casablanca. Selbst der glatte weiße Boden schien unter den unsichtbaren Schritten barfüßiger Kinder zu beben.
Das Publikum saß ruhig, aber die Zeit selbst stand still. Auf der Bühne stand Mustafa - in einem schlichten, dunklen marokkanischen Gewand, das an einen Arbeiter auf dem Weg zur Frühschicht erinnerte. Neben ihm: die Instrumente der deutschen Band Tibet, in exakter Ordnung aufgestellt, wartend. Aber worauf sie warteten, konnte kein Taktgeber steuern - es war der Moment des ghiwanischen Unvorhersehbaren, des echten, gefühlten Ausdrucks.
Der Abend begann mit einer leisen Version von „Wohin führst du mich, Bruder?“ (Fin Ghadi Biya Khoya) - zum Teil ins Deutsche übertragen, zum Teil in marokkanischem Dialekt belassen, wie eine Botschaft, die ohne Übersetzung auskommt. Die elektronischen Klänge des Synthesizers trafen auf den wuchtigen Ton der traditionellen marokkanischen Trommel, die Stimme Mustafas führte durch Erinnerungen: an das Viertel, an harte Tage, an verlorene Hoffnungen, an eine Würde, die nie ganz verging.
Das war kein Konzert - es war ein Beschwörungsritual. Eine kollektive Rückholung einer Erinnerung, die durch Abrisspläne und Zeitläufe bedroht war. Es war, als wollte Mustafa sagen: Wenn das Viertel verschwindet - dann soll wenigstens das Theater weiterleben. Und für uns sprechen.
Am Ende des Stücks applaudierte nicht nur das Publikum. Selbst die Instrumente von Tibet schienen kurz zu atmen. Und Mustafa? Er blieb einfach stehen - ganz still. Nicht wie einer, der Beifall erwartet, sondern wie einer, der eine alte Schuld gegenüber einem Ort eingelöst hat, der ihn nie verlassen hat.
Die Spur der Darbouka
Als sich die Lichter der Bühne senkten und der Applaus langsam verklang, blieb in Mustafa nur ein einziger Gedanke zurück: die Trommel von Boujmia - die echte. Nicht die kleine Handtrommel (Dadou’), die er aus Casablanca mitgebracht hatte - sondern die ursprüngliche Darbouka, das rhythmische Herzstück, das Boujmia einst auf der Bühne von Nass El Ghiwane gespielt hatte. Die Trommel, mit der alles begann. Es ging nicht nur um das Instrument. Mustafa suchte eine Spur. Einen physischen Gegenstand, durch den Erinnerung hörbar und greifbar werden konnte. Ein Relikt, das den Herzschlag einer Generation in sich trug.
Er begann zu suchen. Er reiste nach El Jadida, nach Safi, schließlich sogar bis nach Tanger. Er fragte Musiker, Ladenbesitzer, ehemalige Bühnenarbeiter, Straßenverkäufer. Überall nur Schulterzucken. Viele hatten Boujmia nur von alten Kassetten gekannt. Einige glaubten sogar, die Trommel sei längst verschollen. Doch dann führte ihn eine Erinnerung zu einem fast vergessenen Ort: ein kleines Privatarchiv, verborgen im Haus eines alten Musikers namens Si Larbi Zghari, der in den frühen Tagen von Nass El Ghiwane als Begleitspieler aufgetreten war. Larbi war inzwischen fast blind, aber sein Gehör war hellwach. Er führte Mustafa in einen kleinen Raum, voller verstaubter Instrumente, brüchiger Notenblätter und vergilbter Konzertplakate. In der Ecke stand eine verschlossene Holzkiste, mit rostigem Draht umwickelt.
Larbi sagte leise: „Da ist kein Geld drin... aber vielleicht das Wertvollste, was ich je aufbewahrt habe.“ Mustafa öffnete die Kiste - vorsichtig, fast ehrfürchtig. Darin lag sie: die alte Darbouka, aus Holz, mit einem dunklen Ziegenleder überzogen. Abgenutzt, an den Rändern abgeschlagen, mit verblassten Ornamenten. Aber lebendig. Er hob sie auf - und es war, als würde er einen alten Freund umarmen, der jahrzehntelang geschwiegen hatte. Eine leichte Erschütterung ging durch seine Hände, als er das Fell berührte.
Er nahm sie mit zurück nach Düsseldorf. Er stellte sie nicht einfach auf die Bühne. Nein - er stellte sie in die Mitte. Wie ein Denkmal. Wie einen Zeugen. In den Proben saß er oft einfach nur davor - schweigend. Er betrachtete das gespannte Leder, die dunklen Spuren früherer Auftritte, als könne er die Finger Boujmias noch darin erkennen.
Dann, eines Abends, schlug er zum ersten Mal darauf. Nicht laut - aber klar. Und der Klang war nicht nur ein Echo. Es war eine Anwesenheit. Als wäre Boujmia selbst zurückgekehrt. Nicht, um zu spielen - sondern einfach, um zuzuhören.
Ghiwane lässt sich nicht übersetzen
In den Wochen nach der Premiere wurde Mustafas Stück immer wieder aufgeführt. Die Menschen kamen nicht mehr nur, um zuzuhören - sie kamen, um zu verstehen. Nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Gefühl. Denn was Mustafa auf die Bühne brachte, war keine klassische Musikaufführung, sondern ein lebendiges Wesen: eine Stimme, die lachte, klagte, aufschrie - und zugleich tröstete.
Nach einer Vorstellung fragte ihn ein deutscher Journalist, ob man die Texte von Nass El Ghiwane übersetzen könne. Mustafa lächelte still und antwortete: „Man kann Ghiwane nicht übersetzen - man kann es nur in sich aufnehmen.“ Denn er wusste: Diese Lieder sind keine bloßen Worte. Sie sind Atemzüge aus der Tiefe eines kollektiven Bewusstseins - sie tragen die Stimmen der Mütter, die Geschichten der alten Männer, die Rufe der Marktfrauen am Morgen, das Verstummen der Arbeiter im Lärm der Maschinen. Sie sind Poesie, die zwischen Minztee und Straßengeruch gereift ist - und das lässt sich nicht einfach übertragen.
nichts gegen Übersetzungen - aber gegen Vereinfachung. Deshalb ließ er in seinen Inszenierungen zentrale Verse bewusst unübersetzt. Etwa: „Ma hammouni ghir rrijal ila da‘u“ - Nicht um mich bang, nur um die Männer, die untergehen. Statt die Worte zu erklären, ließ er Bilder sprechen: ein Junge, der durch Ruinen läuft; eine Frau, die sich mit dem Tuch die Tränen trocknet; ein Mann mit ausgestreckter Hand, nicht bettelnd, sondern zeugnisgebend.
In einer Probe zeigte Mustafa einem deutschen Musiker ein Video, das Boujmia bei einem Auftritt zeigte: barfuß, in Ekstase, wie er mit bloßen Händen auf den Dadou‘ schlug - mehr Schamane als Sänger. Der Musiker starrte auf den Bildschirm und sagte: „Das ist kein Musiker. Das ist der Herrscher des Pulses.“ Mustafa lachte leise und sagte: „Nein, er war der Zeuge einer Epoche - und sprach im Namen all jener, deren Stimme man nie hörte.“
Was Mustafa auf die Bühne brachte, war keine Rekonstruktion der Vergangenheit, kein Denkmal und kein Exil für Nostalgie. Es war der Versuch, einer verschütteten Wahrheit ein neues Gewand zu geben - eines, das auch jenseits von Herkunft und Sprache verstanden werden kann. Denn für ihn war klar: Ghiwane ist kein Stil, kein Genre, keine Erinnerung. Es ist eine Frage. Eine Haltung. Ein Ruf an das Gewissen.
Nicht im Sichtbaren, sondern im Verborgenen
Mustafa reiste erneut nach Marokko - nicht für ein Festival, keine Ausstellung, nicht einmal für einen Auftritt. Er kam, um zu verweilen. Still. Auf der Schwelle seines alten Hauses im Viertel Karyan Central, dort, wo einst alles begann.
Die vertrauten Gassen waren verschwunden, neue Mauern zogen sich durch das Viertel, Beton lag über der Erinnerung wie ein schweres Tuch. Und doch war da etwas, das sich nicht hatte tilgen lassen - nicht im Sichtbaren, sondern im Verborgenen.
Es waren die Schatten: Der Schatten von Abdu Shellaq, der als Kind die Stimmen von Nass El Ghiwane nachahmte, bis ihm selbst die Tränen kamen. Der Schatten von Zineb, die beim Wäschewaschen „Mahmouma“ sang, als wäre es ein Gebet. Und der Schatten von Mustafa selbst - ein Junge, der in sein Schulheft schrieb: „Wohin führst du mich, Bruder?“ (Fin ghadi biya khoya).
Er suchte keine Orte - er suchte das, was blieb, wenn die Orte vergehen.
An einem stillen Herbstabend entschied sich Mustafa, ein letztes Mal zu spielen - nicht in einem Saal, sondern unter freiem Himmel, auf einem offenen Platz, der früher ein staubiges Fußballfeld gewesen war. Es gab keine Bühne, keine Bestuhlung, keine Technik. Nur ein paar Kinder mit klapprigen Fahrrädern, Frauen, die sich aus den Fenstern lehnten, neugierige Stimmen im Halbdunkel. Er setzte sich auf den Boden und schlug auf den Dadou‘, und der Klang breitete sich aus wie ein Ruf, der keinen Namen trägt. Er spielte „As-Sayf al-Battar“ - Das scharfe Schwert - ein Lied über Würde, Verlust und das Recht, nicht zu verstummen. Die Band Tibet war ebenfalls da. Sie spielte nicht im Vordergrund, sondern begleitete - zurückhaltend, fast ehrfürchtig. Sie wussten: Der Raum gehörte nicht ihnen.
Am Ende holte Mustafa einen alten Kassettenrekorder aus seiner Tasche. Auf der Kassette stand handschriftlich: Boujmia - Probe. Er hielt ihn in die Höhe, als wolle er ihn nicht zeigen, sondern anvertrauen - und sagte: „Das hier ist die Heimat. Sie muss nicht gesehen werden - sie muss gehört werden.“ Niemand applaudierte. Stattdessen war da ein Moment der Stille, in dem sich alle Blicke auf etwas richteten, das nicht mehr da war und doch gegenwärtiger als je erschien. Und irgendwo aus dem Hintergrund sang eine Frauenstimme leise die Zeile: „Nicht um mich bang, nur um die Männer, die untergehen“.
Mustafa wollte nie berühmt sein. Kein Plakat, kein Festival, kein Dokumentarfilm. Alles, was er wollte, war, der Musik seiner Kindheit einen Raum zu geben - nicht auf CD oder Online-Plattform, sondern in den Herzen jener, die sie verstanden, ohne jedes Wort zu kennen. Er machte aus dem Dadou‘ kein Instrument der Nostalgie - sondern ein Sprachrohr für das, was lange nicht gesagt werden durfte.
Er schrieb keine Symphonie, er entwarf keine neue Musikwissenschaft. Aber er tat etwas Tieferes: Er machte den Klang von Nass El Ghiwane zu einem lebendigen Denkmal des edlen Schmerzes - zu einem Spiegel für all die Geschichten, die nie aufgeschrieben wurden. Denn jedes Mal, wenn er die Trommel schlug, rief er keine Erinnerung wach - er rief eine Haltung auf den Plan. Eine Würde, die im Alltag lebt. Eine Frage, die keine Antwort will. Nur einen offenen Blick. Und am letzten Abend, als das Licht der Stadt sich auflöste, keine Tränen mehr flossen und niemand mehr klatschte, sagte Mustafa, ganz leise - nicht zum Publikum, sondern zu sich selbst: „Vielleicht kehrt Heimat nicht durch Parolen zurück. Sondern leise. Durch Hände, die erinnern. Und durch einen Rhythmus, den man nicht lernen, nur weitergeben kann.“
Dann ging er. Aber das Echo der Ghiwane - das blieb.
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Wer waren Nass El Ghiwane?
Nass El Ghiwane ist eine 1970 in Casablanca gegründete marokkanische Musikgruppe, die aus einfachen Verhältnissen hervorging und zu einer kulturellen Stimme der marokkanischen Gesellschaft wurde. Ihre Gründungsmitglieder - Boujmia Hagour, Laarbi Batma und Omar Siyed - verbanden traditionelle Musikformen wie Malhoun, Gnawa, Chaabi und Sufi-Poesie mit politischen und gesellschaftlichen Themen. Ihre Lieder entstanden nicht aus Unterhaltung, sondern aus Dringlichkeit - als klanglicher Protest gegen soziale Ungerechtigkeit und kollektives Schweigen.
Die Band wurde durch ihre mutige, poetisch-politische Sprache bekannt, die sie auf Darija, dem marokkanischen Dialekt, zum Ausdruck brachten. In einer Zeit der politischen Repression sangen sie über Armut, Würde, Liebe, Heimat, und wurden so zur Stimme einer erwachenden Generation. Selbst König Hassan II. lud sie zu einem exklusiven Auftritt ein
Trotz des frühen Todes Hagours (1974) und Batmas (1997) überlebte die Gruppe. Unter der Leitung von Omar Siyed und neuen Musikern wurde ihr musikalisches Erbe weitergetragen. Ihr Einfluss reicht weit über die Musik hinaus: Schriftsteller, Dichter und Filmemacher - darunter Taher Ben Jelloun, Ahmed El Maanaoui (Transes) und viele andere - widmeten ihnen Werke.
Die Musikgruppe Nass El Ghiwane gilt heute als Ikone der marokkanischen Kulturgeschichte. Ihre Musik wurde zum akustischen Gedächtnis eines Landes im Wandel - ein kulturelles Phänomen, das Widerstand, Erinnerung und Identität in Liedform konserviert hat.
Meilensteine einer Bewegung
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Gründung: 1970 in Casablanca, im Arbeiterviertel Hay El Mohammadi * Stil: Fusion aus Malhoun, Sufi-Poesie, Gnawa, Chaabi, Zajal, Theatermusik * Sprache: Darija (marokkanischer Dialekt), Arabisch * Themen: soziale Gerechtigkeit, Spiritualität, Armut, Erinnerung, Liebe, Würde, politischer Protest
Zeitleiste
1971 | Gründung der Band in Casablanca |
1971-1974 | Erste Erfolge im Theater Al-Masrah Al-Baladi |
1974 | Tod von Boujmia Hagour; die Band wird landesweit bekannt |
1980er | Nationale und internationale Tourneen |
1997 | Laarbi Batma stirbt an Krebs |
2000er | Fortsetzung mit Omar Siyed und neuer Besetzung |
2007 | Wiederaufführung von Transes (Film über die Band) in Cannes |
Heute | Nass El Ghiwane gilt als lebendiges Kulturerbe Marokkos |