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Alle lieben Touda: Der Ruf nach Freiheit und Anerkennung - Über L‘Aita

Seite 2 von 2: Über L‘Aita

L'Aita, Foto mit Hilfe von ChatGPT erstellt

Der Name „L‘Aita“ lässt sich aus dem Arabischen als „Ruf“ oder „Schrei“ übersetzen, ist eine der ursprünglichsten Ausdrucksformen marokkanischer Volkskultur. Entstanden im 19. Jahrhundert in den ländlichen Regionen West- und Zentralmarokkos – etwa in Doukkala, Chaouia oder Abda –, erzählt sie in gesungener Poesie von den Hoffnungen, Kämpfen und Leidenschaften der einfachen Leute. L‘Aita ist weit mehr als nur Musik: Sie ist zugleich Erzählung, Klage und Aufbegehren, ein lebendiger Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklungen und inneren Befindlichkeiten einer ganzen Bevölkerungsschicht.

Traditionell wird „L‘Aita“ mündlich überliefert, ihre Verse und Melodien sind in ständiger Bewegung, geprägt von den Stimmen derer, die sie weitertragen. Besonders die Frauen, die sogenannten Sheikhat, haben sich dieser Kunst verschrieben. Als Sängerinnen, Tänzerinnen und Dichterinnen verkörpern sie „L‘Aita“ auf eine Weise, die persönliche Erfahrung und kollektives Gedächtnis miteinander verwebt. In einer oft konservativen und männerdominierten Gesellschaft traten die Sheikhat in einer Doppelrolle auf: Einerseits bewahrten sie ein kostbares kulturelles Erbe, andererseits wurden sie als Künstlerinnen, die auf Festen und in Cafés auftraten, sozial marginalisiert.

Musikalisch lebt „L‘Aita“ von der Spannung zwischen klaren Rhythmen und improvisierten Momenten. Begleitet wird sie von traditionellen Instrumenten wie der Bendir, einer großen Rahmentrommel, der Oud, einer orientalischen Laute, sowie der Geige, deren klagende Töne die emotionalen Bögen der Erzählungen untermalen. Die Lieder thematisieren Liebe in all ihren Facetten – von hingebungsvoller Leidenschaft bis zur unerfüllten Sehnsucht –, aber auch Verlust, Widerstand gegen Unrecht und die Suche nach Freiheit. Während der französischen Kolonialherrschaft wurde L‘Aita zu einer subtilen Waffe des Widerstands: In metaphorischen Bildern und Chiffren artikulierten die Sängerinnen die verborgene Wut und die Hoffnung der Unterdrückten.

Heute steht L‘Aita an einem Scheideweg. Ihre Zukunft liegt zwischen Bewahrung und Neuerfindung. Einerseits gibt es Bemühungen, die alten Formen zu dokumentieren und im Bewusstsein einer neuen Generation lebendig zu halten. Andererseits versuchen junge Künstlerinnen und Künstler, L‘Aita neu zu interpretieren, sie mit modernen musikalischen Einflüssen zu verweben und so eine Brücke zwischen Tradition und Gegenwart zu schlagen. In einer Zeit, in der Fragen von Identität und kultureller Selbstbehauptung neu verhandelt werden, bewahrt L‘Aita ihren einzigartigen Charakter: eine Kunstform, die zugleich archaisch und gegenwärtig, tief verwurzelt und offen für Wandel ist – ein fortwährender Ruf aus der Tiefe der marokkanischen Seele.

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