Sprache der Vögel: Die Geschichte einer Vogelschar auf dem Pfad der Selbstfindung - Leseprobe: Bei der Königin der Königin von Saba
Einstmals, in grauer Vorzeit, versammelten sich alle Vögel der Welt in feierlichem Konklave, um eine bedeutsame Frage zu erörtern. Seit Anbeginn der Schöpfung hatten die Bewohner jeder Stadt einen König oder Anführer gehabt, doch diese gefiederten Seelen hatten keinen König, der ihnen beistand. Ihr Heer war ohne General, eine höchst prekäre Lage. Wie konnten sie im Kampf des Lebens erfolgreich sein, ohne einen Anführer, der die schwachflügelige Schar durch die Gefahren des irdischen Daseins führte? Mancher wortgewaltige Redner wandte sich in klagenden Worten an die Versammlung, beklagte ihre hilflose Notlage und rührte die winzigen Geschöpfe zu Tränen, und es wurde einstimmig beschlossen, dass es höchst wünschenswert, ja, absolut notwendig sei, dass sie sich unverzüglich unter den Schutz eines Königs stellten.
In diesem Augenblick, voller Inbrunst, sprang der Wiedehopf (Hud-hud) hervor, berühmt in den muslimischen Schriften für die Rolle, die er als König Salomos vertrauter Gesandter bei Belqis, der Königin von Saba, gespielt hatte. Sie trug auf ihrer Brust das Wappen, das ihr geistiges Wissen symbolisierte, und auf ihrem Haupt erstrahlte die Krone des Glaubens. "Geliebte Vögel", sprach sie, "ich habe die Ehre, dem Himmlischen Heer anzugehören. Ich kenne den Herrn und die Geheimnisse der Schöpfung. Wenn man, wie ich, den Namen Gottes in großen Lettern auf seinem Schnabel trägt, darf man sich rühmen, manches Geheimnis der geistigen Welt zu kennen." Im gleichen überschwänglichen Tonfall erzählte sie von ihren physischen und mentalen Vorzügen. Sie besaß die Gabe, unterirdische Wasserquellen zu erspähen, und hatte die Dschinn zu ihnen geführt, indem sie die Erde pickte. Sie hatte in den Tagen der Sintflut den Erdball umrundet und Salomo auf seiner Reise durch Täler und Wüsten begleitet. Sie war die Vorläuferin seines Heeres und seine treue Botin. "Wir haben einen König, meine Freunde", sagte sie, "ich habe einen Hinweis auf Seinen Hof erhalten; doch Ihn allein zu suchen, übersteigt meine Kräfte. Wenn ihr mich jedoch begleitet, denke ich, dürfen wir hoffen, die Schwelle Seiner Majestät zu erreichen. Ja, meine Freunde, wir haben einen König, dessen Name Simurgh ist und dessen Residenz sich hinter dem Berg Kaukasus befindet. Er ist uns nahe, doch wir sind weit von Ihm entfernt. Der Weg zu Seinem Thron ist mit Hindernissen übersät; mehr als hunderttausend Schleier aus Licht und Dunkelheit verhüllen den Thron. Hunderttausende von Seelen brennen mit inbrünstiger Leidenschaft, Ihn zu sehen, doch niemand vermag den Weg zu Ihm zu finden. Und doch kann niemand es sich leisten, ohne Ihn auszukommen. Höchste Mannhaftigkeit, vollkommene Furchtlosigkeit und gänzliche Selbstaufopferung sind erforderlich, um jene Hindernisse zu überwinden. Wenn es uns gelingt, einen Blick auf Sein Antlitz zu erhaschen, wird dies wahrlich eine Errungenschaft sein. Wenn wir es nicht versuchen, und wenn wir es versäumen, den Geliebten zu grüßen, ist dieses Leben nicht lebenswert."
Der Wiedehopf schilderte sodann ihren geflügelten Gefährten, wie der Simurgh einst auf Erden in Erscheinung getreten war. "In den frühen Tagen der Schöpfung zog Er zu mitternächtlicher Stunde in strahlendem Flug über das Land China. Eine Feder von Seinem Flügel fiel auf chinesischen Boden. Augenblicklich entstand ein großes Getümmel in der ganzen Welt. Jeder wurde von dem Verlangen ergriffen, ein Bild jener Feder zu nehmen, und wer das Bild sah, verlor seine Sinne. Jene Feder befindet sich noch immer in Chinas Bildergalerie. 'Suche Wissen, selbst in China' weist darauf hin." Als die Vögel diese Kunde vom Simurgh vernahmen, verloren sie alle Geduld und wurden von der Sehnsucht ergriffen, sich sogleich auf die Suche nach dem erhabenen Vogel zu begeben. Sie wurden Seine Freunde und ihre eigenen Feinde und wünschten aufzubrechen, Ihn zu suchen, doch als ihnen die Länge und Furchtbarkeit des Weges kundgetan wurde, waren sie gänzlich entmutigt und brachten allerlei Entschuldigungen vor. Diese Rechtfertigungen waren bezeichnend für die persönlichen Eigenheiten der verschiedenen Vogelarten.
Der erste, der kehrtmachte, war die Nachtigall, bekannt für ihre leidenschaftliche Neigung zur Rose und für die entzückenden Melodien, in denen sie ihre Liebe besingt. "Ich bin so vollständig in den Ozean der Liebe zu meiner Rose eingetaucht", sprach sie, "dass ich praktisch kein eigenes Leben mehr habe. Wie kann ein so winziges Wesen wie ich die Kraft aufbringen, dem Glanz des Simurgh standzuhalten? Für mich ist die Liebe zur Rose genug." "Oh", rief der Wiedehopf, "ihr, die ihr bei bloßem Schein verweilt, nur von äußerer Schönheit bezaubert, redet nicht länger von Liebe. Eure Liebe zur Rose hat euch lediglich Dornen in den Weg gestreut. Solch eine Leidenschaft für vergängliche Dinge bringt nichts als Kummer. Gebt eure Neigung zur Rose auf. Sie verspottet euch jeden Frühling und blüht nicht um euretwillen. Eure Bindung an sie gleicht der des Derwischs in der Geschichte, die ich euch erzählen werde."