Sprache der Vögel: Die Geschichte einer Vogelschar auf dem Pfad der Selbstfindung
Mit "Die Sprache der Vögel" (Manteq al-Tair) schuf der persische Dichter und Mystiker Farid al-Din al-Attar im 12. Jahrhundert ein Werk von zeitloser Kraft und symbolischer Tiefe. In poetischer Sprache erzählt er von einer Gemeinschaft von Vögeln, die sich auf eine weite, gefahrvolle Reise begeben - auf der Suche nach einem König, der Ordnung und Sinn in ihr Dasein bringen soll. Doch was wie ein märchenhaftes Gleichnis beginnt, entfaltet sich bald zu einer vielschichtigen Parabel über spirituelle Erkenntnis, Selbstüberwindung und die Suche nach dem Absoluten.
Dr. Badi' Mohammed Jumu'a übertrug Die Sprache der Vögel aus dem Persischen ins Arabische und verfasste eine umfassende Studie zu diesem Meisterwerk der persischen Mystik * Die Redaktion hat ausgewählte Passagen aus dieser Studie übernommen, neu konzipiert, mit Ergänzungen aus dem Original angereichert und aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt. |
Al-Attars Werk ist mehr als eine literarische Allegorie: Es ist eine Einladung zur inneren Reise, zur Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen und zur Annäherung an das Göttliche. In einer Zeit, in der die äußere Welt oft lauter spricht als die innere, wirkt dieses Meisterwerk aus der persischen Mystik wie ein stiller Ruf zur Rückbesinnung - aktuell, bewegend und voller Weisheit.
Die Handlung
Im Zentrum des Werkes steht eine Schar Vögel, die gemeinsam aufbricht, um ihren wahren König, den geheimnisvollen Simurgh, zu finden. Jeder Vogel steht dabei exemplarisch für menschliche Charakterzüge: Zweifel, Stolz, Angst, Begierde oder spirituelle Sehnsucht.
Die Reise führt sie durch sieben symbolische Täler: das Tal der Suche, das der Liebe, der Erkenntnis, der Entsagung, der Einheit, der Verwirrung und schließlich das Tal der Vernichtung. Jedes dieser Täler steht für eine Stufe spirituellen Erwachens und konfrontiert die Reisenden mit grundlegenden existenziellen Fragen und inneren Prüfungen. Viele Vögel scheitern an den Herausforderungen und kehren um.
Nur dreißig erreichen das Ziel: den sagenumwobenen Berg Qaf. Dort machen sie eine tiefgreifende Erkenntnis: Der Simurgh ist kein von ihnen getrenntes Wesen - sie selbst sind der Simurgh. Diese Einsicht symbolisiert die Aufhebung der Trennung zwischen Individuum und Göttlichem, die Vereinigung mit dem wahren Selbst.
Ein poetisches Lehrstück des Sufismus
"Die Sprache der Vögel" ist tief verwurzelt in der mystischen Tradition des Sufismus. In dichterischer Form verarbeitet Al-Attar zentrale Konzepte sufistischen Denkens: die Auflösung des Ego, die Läuterung des Herzens, die Suche nach Wahrheit und die mystische Vereinigung mit dem Göttlichen.
Zentrale Konzepte sind:
- Die sieben Täler: symbolisieren die Stadien des inneren Weges.
- Tawhid (Einheit): die Erkenntnis, dass es keine Trennung zwischen Gott und Schöpfung gibt.
- Der spirituelle Führer: eine notwendige Figur, die Orientierung auf dem Weg gibt.
Al-Attars poetische Sprache ist reich an Metaphern und Gleichnissen. Eindrucksvolle Verse wie: "Liebe ist ein Feuer, das die Herzen verbrennt, und Sehnsucht ist ein Meer, das die Seelen ertränkt." oder "Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn." verleihen dem Werk eine emotionale Tiefe und spirituelle Kraft.
Einfluss und Wirkung
"Die Sprache der Vögel" zählt zu den bedeutendsten Werken der persischen Literatur. Es inspirierte Generationen von Mystikern, Dichtern und Denkern - darunter Rumi, der Al-Attar hoch verehrte. Auch im Westen wurde das Werk geschätzt: Goethe, Emerson und Borges fanden in ihm universelle Weisheit.
2022 erschien eine zweisprachige, illustrierte Ausgabe (Persisch/Deutsch) in der Berliner Edition Orient, die das Werk einem neuen Publikum näherbringt.
Das Wortspiel
Der Name des gesuchten Königs "Simurgh" birgt ein sprachliches Geheimnis: Auf Persisch bedeutet "si" dreißig und "murgh" Vögel. Die Entschlüsselung am Ende der Reise zeigt: Die dreißig Vögel sind selbst der Simurgh. Dieses Wortspiel untermauert die zentrale Erkenntnis des Werkes: Die Wahrheit liegt in der Selbsterkenntnis.
Farid al-Din al-Attar: Leben und Erbe
Al-Attar wurde um 1145 in Nischapur geboren und war Dichter, Mystiker und Apotheker. Als Sufi prägte er die persische Literatur tiefgreifend. In seinem Laden begegnete er menschlichem Leid und Hoffnung - Erfahrungen, die seine spirituelle Suche beeinflussten. Seine Hinwendung zum Sufismus markierte einen Wendepunkt. Seine Werke zeugen von einer tiefen Gottesliebe und spirituellen Reife. Er starb vermutlich während der mongolischen Invasion um 1221.
"Die Sprache der Vögel" ist ein spirituelles Manifest und ein poetischer Wegweiser. Es lädt den Leser ein, sich auf eine innere Reise zu begeben - eine Reise zu sich selbst und zum Göttlichen. Auch nach Jahrhunderten hat dieses Werk nichts von seiner Strahlkraft verloren.