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Die alte Welt stirbt und im Schatten des Niedergangs wächst Hoffnung - Der Tod Gottes und die Geburt der Ungeheuer

Seite 2 von 2: Der Tod Gottes und die Geburt der Ungeheuer

Abdelhak NajiGott, Mensch und das Göttliche in uns

Ohne gleich Nietzsches berühmten Satz vom „Tod Gottes“ zu bemühen - ein Zitat, das ohnehin meist unvollständig wiedergegeben wird, da man den Anfang nennt und das Ende unterschlägt -, sei hier die vollständige Formulierung in Erinnerung gerufen: Gott ist gestorben aus seiner Liebe zu den Menschen. Der Autor des „Zarathustra“ präzisiert: „Auch Gott hat seine Hölle: es ist seine Liebe zu den Menschen.“ Der Sinn ist keineswegs so schwer zu erfassen, wenngleich die Formulierung weitaus komplexer ist, als sie auf den ersten Blick erscheint. Um die Feinheiten dieser Aussage zu verstehen, muss man die Gottesidee in Nietzsches gesamter Philosophie kennen. Das Göttliche in uns stirbt, weil der Mensch darin versagt, sich zum Rang des Göttlichen zu erheben. Und doch trägt der Mensch diesen göttlichen Hauch in sich - nur wenige vermögen ihn so freizusetzen, dass ihr Leben eine Dimension gewinnt, die über das rein Menschliche hinausreicht.

Ein wenig Philosophie führt zum Atheismus, doch eine tiefe Philosophie führt zum Göttlichen. Selbst die Idee des Übermenschen bei Nietzsche ist in diesem Sinn zu verstehen: Es geht darum, ein Ideal zu erreichen, das den Menschen über sich selbst hinaushebt, das seine Niedertracht zunichtemacht, das ihn auf den Rang einer gesteigerten, veredelten Menschlichkeit erhebt - gestärkt durch die reine Luft der Höhen, den Gipfeln nahe, fern den Niederungen der brüllenden Masse. Darin liegt der Kern der Beziehung des Menschen zum Göttlichen - und damit zu seinem eigenen Bewusstsein. „Ich sah den Engel im Marmor und meißelte, bis ich ihn befreit hatte“, sagte einst Michelangelo.

Von der Kraft einfacher Ideen und der Illusion einer „wertfreien“ Gegenwart

In ähnlichem Sinne schreibt Alexis de Tocqueville: „In der Regel sind es nur die einfachen Vorstellungen, die den Geist des Volkes ergreifen. Eine falsche, aber klare und präzise Idee wird in der Welt stets mehr Macht besitzen als eine wahre, aber komplexe.“ Dies gilt umso mehr, als wir heute in einer Welt leben, die in sich alle Ingredienzien von Verfall und Niedertracht trägt. Gewiss, jede Epoche hat ihr eigenes Mittelalter. Doch in unserer Zeit erleben wir die Kumulation aller dunklen Perioden der Menschheitsgeschichte. In einem solchen Gefüge sind Ordnung, Wahrheit und Schönheit weder bekannt, noch empfunden, noch geschätzt. Unser Geist ist derart verdorben durch Nachlässigkeit und Überheblichkeit der Gesellschaft, dass uns - sollte die „schöne Gesellschaft“ wiedererstehen - diese wohl fade und ohne Reiz erschiene.

Stellen wir uns vor, wir lebten in einer Welt, in der die großen Denker Sumeriens, Babylons, des alten Ägypten und Griechenlands gegenwärtig wären, in der wir die lateinischen und arabischen Philosophen, die indischen und chinesischen Weisen, die Schamanen aller Kulturen um uns hätten - wir würden es kaum bemerken. Denn unser Geist ist verdorben und verkümmert. Das Prinzip der Erhebung ist dem, was von dieser taumelnden Menschheit übriggeblieben ist, gänzlich fremd. Weder Wille zur Macht noch Sehnsucht nach Größe, weder die Wahl des Schönen angesichts der massenhaft produzierten Hässlichkeit in allen Gesellschaften der Erde. Nichts davon, nur die Neigung zum Schmutz.

Welche merkwürdige Anmaßung zu glauben, man könne eine Gegenwart ohne Vergangenheit formen, einen Baum ohne Wurzeln pflanzen, sich erheben ohne Werte! Ein solcher Glaube ist nichts anderes als eine Anklage gegen alle Völker, eine Verachtung der Ansichten der edelsten Geister der Antike wie der Neuzeit. Es ist ein Irrweg von Grund auf. Viele Generationen hielten es für ihre Mission, die Welt neu zu erschaffen. Unsere aber müsste sich die Aufgabe stellen, zu verhindern, dass sie zerfällt.

Selbstwerdung, Mut und die Schule der Fehler

Doch es gilt, eine Nuance zu setzen: Die Hinwendung zum Göttlichen gehorcht keinem Dogma. Die hier gemeinte Sakralität entspringt dem Denken, verbunden mit dem Geist, der nach tiefer Betrachtung der Welt und unseres Menschseins verlangt - als Wesen, das denkt, empfindet, reflektiert, schafft und nach seiner besten Version strebt. So sehr, dass er sein Leben selbst zu einem Kunstwerk formt, in dem Maße, dass er dieses Leben wieder und wieder zu leben wünschte - ad infinitum. Der Weg dorthin führt über die Selbsterkenntnis, um zu werden, wer man ist.

Die Lehre ist eine andere Sonne für die, die sie empfangen“, sagte einst Heraklit. Diese Lehre erwächst aus den Siegen über unsere Begrenzungen ebenso wie aus unseren Niederlagen. „Ein Leben, das mit Fehlern verbracht wird, ist nicht nur ehrenvoller, sondern auch nützlicher als ein Leben, in dem man nichts tut“, erwiderte George Bernard Shaw einem Bekannten, der ihm seine Art, das Leben zu betrachten, vorwarf. Die größte Gefahr besteht darin, nichts zu tun.

In diesem Geiste formulierte Søren Kierkegaard so treffend: „Wagen heißt, für einen Augenblick den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nicht zu wagen heißt, sich selbst zu verlieren.“ Denn am Ende all unserer Irrtümer kommt jener Moment, in dem sich die Verwandlung vollzieht. „Im Grunde ist dies die Einsamkeit: sich in den Kokon der eigenen Seele hüllen, zur Chrysalis werden und die Metamorphose erwarten - denn sie kommt unweigerlich“, schrieb August Strindberg.

Moderne Illusionen, Masse und Verblendung

Doch die Wirklichkeit der sogenannten Moderne ist grausam. Die Zeiten der Wüste sind zurückgekehrt; die Religionen verfallen in die Sterilität ihrer Anfänge - inmitten einer furchtbaren Götzenverehrung: der Vergötzung des Menschen durch sich selbst. Albert Camus wagte dennoch zu hoffen: „Vielleicht besteht die höchste Tugend unseres Jahrhunderts darin, die Menschheit unverwandt anzublicken, ohne den Glauben an die Menschen zu verlieren.“ Doch gewiss ist das keineswegs, wenn man die Realität unserer Gegenwart ernsthaft betrachtet - und erst recht nicht mit Blick auf die Zukunft.

Man muss erkennen: Der Triumph der Demagogen ist vergänglich, doch die Ruinen, die sie hinterlassen, sind von Dauer. Gewiss, man kann die Geister bilden, ohne sie zu formen, sie bereichern, ohne sie zu indoktrinieren, sie wappnen, ohne sie zu rekrutieren, man kann ihnen das Beste von sich selbst geben, ohne als Lohn die Nachahmung zu erwarten. Dennoch bleibt die Gegenwart durchseucht von einem unzerstörbaren Bazillus: der Neigung zur Kleinheit in all ihren Gestalten und Verästelungen.

Haben Sie bemerkt, dass es zwei unfehlbare Methoden gibt, die im ständigen Fluss angewandt werden, um das Denken zu zerschlagen? Zum einen wird die Sprache der Menschen verarmt, das Vokabular auf ein Minimum reduziert, um Nuancen und Komplexität zu verhindern. Zum anderen erfinden die modernen Gesellschaften ständig Deckbegriffe - Wörter, die mehrere Konzepte zusammenfassen -, um sie leichter zu manipulieren… und uns gleich mit, wie ferngesteuerte Marionetten.

Die Massen suchen weder nach Wahrheit noch nach etwas, das ihr nahekommt. Im Gegenteil: die Menge wendet sich von den Evidenzen ab, die weder in ihrem Interesse liegen noch ihrem Geschmack entsprechen. Sie vergöttert Illusion, Trug und den Kult des Irrtums, so sehr, dass derjenige, der ihre Illusionen nährt, ihr Herrscher wird. Doch wer diese Illusion zerstören und den Schleier der Lüge lüften will, wird ihr Feind - und damit ihr Opfer.

Wissen, Liebe und die neue Welt

So sind wir umgeben von Phänomenen, die unser kleiner Menschengeist kaum zu begreifen vermag, während wir uns einbilden, die Mysterien der Welt zu kennen, und in Wahrheit fast nichts von ihnen wissen. Man mag diese Realitäten weiter ignorieren, doch die Folgen dieser Ignoranz lassen sich nicht ignorieren - ebenso wenig wie die Auswirkungen dieser Haltung. Auf dem Weg, den wir „Dasein“ nennen, müssen wir lernen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden, unsere Kämpfe weise zu wählen und den Nichtigkeiten und Ablenkungen den Rücken zu kehren.

Auf dieser Bahn gilt es, standhaft zu bleiben angesichts der allgegenwärtigen Torheit. Die heutige, so kranke Welt ist das direkte Ergebnis unseres Systems von Denken und Glauben. Soll die Welt sich ändern, muss jeder Einzelne zuerst gegen die Falschheit seines eigenen Denkens ankämpfen. Er muss mit der Vergangenheit ins Reine kommen, im Heute handeln und die Angst überwinden, die seinen gelähmten Geist fesselt.

Nicht zu vergessen: Viele von uns glauben, dass sie denken - während sie in Wahrheit nur ihre Vorurteile neu ordnen. Diese sind die schädlichsten. Fast niemand ist fähig, die Welt, die Wesen und die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind. Die Menschen sehen die Welt so, wie sie selbst sind, und projizieren auf die Existenz ihre eigenen Stimmungen und Befindlichkeiten. Daraus erwächst eine unermessliche Summe von Irrtümern, Fehlurteilen, falschen Wahrheiten, Missverständnissen und Verirrungen, die stets an den Rand des Schlimmsten führen.

Darum gilt es, sich stets vor Augen zu halten: Wer nichts weiß, liebt nichts. Wer nichts vermag, versteht nichts. Wer nichts versteht, ist ohne Wert. Doch wer versteht, liebt, beobachtet, erkennt. Je mehr wir über etwas wissen, desto größer wird die Liebe - so sprach Paracelsus.

Kurz gesagt: Die alte Welt stirbt. Die neue ringt mit Mühe darum, Gestalt anzunehmen. Und so ist die Zeit der Ungeheuer gekommen.

Über Abdelhak Najib
Übersetzung aus dem Französischen

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