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Der ewige Gott - Religion als Fundament der Geschichte - Die Illusion des Glaubens

Seite 2 von 2: Die Illusion des Glaubens

Die Illusion des Glaubens als Fundament der Geschichte

Abdelhak NajibSeit über zwanzig Jahrhunderten trug eine einzige religiöse Idee die Geschichte - solange die Illusion, die sie nährte, ihre Kraft nicht verlor. Mehr als zweitausend Jahre, in denen Kriege und Konflikte unablässig aufflammten, nur um den Anspruch Gottes und das ihm angeblich gebührende Territorium zu verteidigen.

Während der Kreuzzüge (1095 bis 1291), die das damals von Muslimen beherrschte Jerusalem zurückerobern und es zum Symbol einer vereinten Christenheit machen sollten, hätte die Spaltung zwischen Orient und Okzident überwunden werden können. Doch das große Ziel, Germanen, Franzosen und Angelsachsen dauerhaft unter einem gemeinsamen Banner zu einen, scheiterte an inneren Rivalitäten und Machtkämpfen.

Die Religionen begegneten einander mit Ablehnung und Hass: Christen verachteten Juden und Muslime, Muslime wiederum lehnten Kreuzfahrer wie Hebräer ab. Auch das Judentum wies sowohl Christentum als auch Islam zurück und hielt allein an Jahwe fest. Alle drei Religionen beriefen sich jedoch auf denselben Grundsatz: den Monotheismus, den Glauben an den einen Gott. Jede Seite beanspruchte für sich allein die Wahrheit - und entlarvte mit Leidenschaft die Schwächen der anderen. Ein gefährliches Spiel, das seit Jahrhunderten anhält.

Die Folgen waren Massaker, Verwüstungen und endlose Kriege. Im 20. Jahrhundert kulminierte dies in einem neuen Konflikt: der Gründung des Staates Israel (1948), der seither wie ein Dreh- und Angelpunkt zwischen Orient und Okzident wirkt - zugleich Symbol der Hoffnung und Brennpunkt der Zwietracht. Das alte Leitmotiv lebt fort: Mein Gott ist größer als deiner.

Auf diesem Schlachtfeld des Glaubens wird Töten zum „moralischen Heilmittel“. Wer im Namen seines Gottes mordet, muss kein Gewissen und keine Reue fürchten. Und so werden sich die drei monotheistischen Religionen - Judentum, Christentum und Islam - weiter bekämpfen, über Jahrhunderte hinweg, vielleicht bis ans Ende dieser Welt. Selbst nach dem Zusammenbruch des Westens, so der düstere Ausblick, wird die religiöse Rachsucht neue Nahrung finden - als ob das Blut, das im Namen der Religion vergossen wird, eine unheimliche Kraft des Überdauerns hätte.

Die Beständigkeit des Dogmas

Eine Idee, die seit dreißig Jahrhunderten existiert, die vor zwanzig Jahrhunderten ihren inneren Gegner hervorbrachte - das Christentum im Verhältnis zum Judentum - und vor fünfzehn Jahrhunderten durch den Islam erneut herausgefordert wurde, ist erstaunlich widerstandsfähig. Der Monotheismus scheint fähig, alle Katastrophen zu überleben.

Wenn die westliche Zivilisation eines Tages in Trümmern liegt, werden nicht Wissenschaft oder Kunst übrigbleiben. Überleben werden vor allem die monotheistischen Religionen, die sich als neue Fundamente anbieten, auf denen die Überlebenden ein weiteres Mal eine Welt aufbauen können.

Es ist ein folgenschwerer Irrtum zu glauben, Zivilisationen seien aus der Kultur hervorgegangen - durch Literatur, Kunst oder Philosophie. In Wahrheit beruhen sie auf dem religiösen Credo, das zur Lebensweise und zum Denkschema erhoben wurde. Religion definiert seit jeher Kultur und Zugehörigkeit.

Über Jahrhunderte stützte sich dieses religiöse Fundament zudem auf Handel und Wirtschaftskraft. Alle Eroberungen - ob von Hebräern, Christen oder Muslimen - hatten dasselbe Ziel: den Raum des Glaubens auszuweiten. Erst wenn dieses religiöse Territorium gesichert war, konnten politische und wirtschaftliche Systeme entstehen. Sie schöpften ihre moralische Legitimation stets aus dem Religiösen - und das umso mehr, wenn Chaos drohte.

Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900), einer der radikalsten Kritiker des Christentums, schrieb: „Das wichtigste Ereignis der jüngsten Zeit - dass Gott tot ist - wirft bereits seine ersten Schatten auf Europa.“ Damit meinte er: Der Glaube an Gott verlor im Europa des 19. Jahrhunderts seine Selbstverständlichkeit. Doch der vermeintliche „Tod Gottes“ führte nicht zu Befreiung, sondern ließ neue Ideologien entstehen, die an seine Stelle traten - Kommunismus und Sozialismus.

Die Industrialisierung hatte eine neue Figur hervorgebracht: den Proletarier, der nicht mehr an die Kirche glaubte. Mehr noch: Die Arbeiterklasse, bald die größte Gesellschaftsschicht, erkannte, dass der Klerus selbst aus Industrie und Geld Kapital schlug, um den Glauben bei jenen zu erzwingen, die kaum mehr als die Idee Gottes besaßen, um nicht an der Hoffnungslosigkeit zu zerbrechen.

Karl Marx (1818–1883), Philosoph und Ökonom, erklärte Religion zum „Opium des Volkes“. Seine Lehre inspirierte den Sozialismus, der im revolutionären Russland zur Staatsdoktrin wurde. Doch weil er das Religiöse vollständig aus Gesellschaft und Literatur verbannte, konnte er nur siebzig Jahre überdauern - der Sowjetunion fehlte das religiöse Fundament. Damit beraubte sich der Osten der Möglichkeit, ein Reich für Jahrhunderte aufzubauen.

Im Westen dagegen war es anders: Das Kapital selbst wurde zum Rückgrat des Systems. Es galt die unausgesprochene Gleichung: Die Vereinigung von Glaube und Produktionsmitteln ist unfehlbar. Sie bestimmt die Arbeitswoche - mit dem Sonntag, der Gott und seiner Kirche vorbehalten bleibt.

Die Vorstellung, dass der Mensch selbst Gott sein könnte, zerbrach dagegen an sich selbst - wie ein schwarzes Loch, das einen ganzen Jahrhundertlauf an Zweifeln und Skepsis verschlang, ohne einer neuen Form des Zusammenlebens den Weg zu bereiten. Nietzsche schrieb bitter: „Jede Kirche ist das Grab eines Gott-Menschen; sie will um jeden Preis verhindern, dass er wiederaufersteht.“

Die Geschichte bestätigt dies: Der Gott-Mensch fand niemals seine Verkörperung in der Gesellschaft. Immer blieb er ein gescheitertes Projekt, geopfert zugunsten einer hartnäckigen Überzeugung: dass keine Gemeinschaft ohne eine übergeordnete Gottheit bestehen kann. Religion wurde so zur einzigen anerkannten Moral.

Nietzsche formulierte es so: „Gott ist ein Gedanke, der das Gerade krümmt und das Unbewegliche in Bewegung setzt.“ In dieser Bewegung gewann die Idee des Westens ihre Gestalt: Zivilisation entsteht aus der Einheit von drei Kräften - Gott, Geld und Hölle.

Gott tröstet und ermutigt den Armen, noch mehr zu geben, um seine verlorene Seele zu retten. Geld hält die Gesellschaft zusammen und vermittelt das Gefühl, dass harte Arbeit Reichtum anhäufen könne. Und die Hölle schließlich schreckt jeden davon ab, eine Ordnung jenseits der religiösen Gesetze zu erträumen. Die Orte des Gebets - Kirche, Synagoge, Moschee, Tempel - sind die letzten Bollwerke gegen das Zerfallen der Gesellschaft, auf der die Reiche gebaut werden.

Rom und die Lektion der Geschichte

Selbst Rom, das heidnische Imperium, erkannte im 4. Jahrhundert unter Kaiser Konstantin (Edikt von Mailand 313 n. Chr.), dass es ohne eine Staatsreligion nicht bestehen konnte. Das Christentum wurde daraufhin Staatsreligion und stellte sich dem Gott der Juden entgegen. Doch Rom hatte zu lange gezögert: Während Byzanz im Osten fortbestand, verfiel das weströmische Reich - eine Strafe der Geschichte für die Arroganz, ohne eine einigende Religion über Jahrhunderte bestehen zu wollen.

Das Geheimnis der byzantinischen Langlebigkeit lag darin, dass es den monotheistischen Gott früh als zentrales Prinzip der Herrschaft anerkannt hatte. Rom hingegen war blind für die Notwendigkeit einer einenden religiösen Instanz. Die Geschichte vergisst solche Fehler nicht: Sie bestraft jedes falsche Timing. Sie lehrt, dass jede Gesellschaft eine sichtbare Gottheit braucht - als Banner, als Schutzschild, als kulturelle Identität, um in der Geschichte Bestand zu haben. Ohne sie ist der Zerfall gewiss, egal wie groß Reichtum und Territorien auch sein mögen.

Man muss nur zurückblicken: auf Sumer, auf Babylon, auf die Dynastien der Pharaonen, auf die antiken griechischen Götterwelten oder auf das osmanische Reich. Überall derselbe Mechanismus: Ohne einen festen Pantheon, ohne einen obersten Gott, kein dauerhaftes Imperium. Auch wenn neben ihm andere Götter stehen durften - entscheidend war immer das eine Ideal, das die Welt ordnete, mit den beiden Polen Paradies und Hölle.

Und so treten die religiösen „Beweise“ hervor: Moses spricht mit dem brennenden Dornbusch, Jesus steht von den Toten auf, Mohammed steigt in den Himmel auf. Alles steht und fällt mit der Idee des Wunders. Dreitausend Jahre Geschichte sind auf diesem Credo gebaut - und wir leben noch immer darin.

Die Rückkehr des Heiligen im 21. Jahrhundert

Noch nie war Religion so aufgeladen wie im 21. Jahrhundert. Gott nimmt wieder Platz auf dem Thron der Geschichte. Neue Religionskriege brechen aus, halten ganze Völker in Atem und schüren alte Feindschaften. Immer wieder erklingt dieselbe Litanei: Mein Gott ist größer als deiner. Doch heute ist sie von noch mehr Bitterkeit und Hass durchdrungen als je zuvor.

Das verheißt zweierlei: Zum einen, dass Gott - als Idee, als Symbol, als Machtfaktor - mehr denn je „Konjunktur“ hat. Zum anderen, dass die Hölle bereits vor der Tür steht. Zwischen diesen beiden Polen - der verheißungsvollen Hoffnung und der drohenden Verdammnis - schreiben sich die letzten Kapitel einer westlichen Zivilisation, die zusehends zerfällt.

Denn auch das Göttliche hat seine Schwächen. Nietzsche notierte: „Gott hat auch seine Hölle - es ist seine Liebe zu den Menschen.“ Das bedeutet: Menschen sind immer zum Schlimmsten fähig. Und gerade das Böse, das sie einander zufügen, bestätigt die Religionen in ihrem Versprechen von einer besseren, aber unerreichbaren Welt. Eine Welt, die niemals im Hier und Jetzt Wirklichkeit wird, sondern einzig im Jenseits.

Das Paradies, so lehren es die Religionen, muss verdient werden. Es wird nur jenen zuteil, die gelernt haben, sich den Dogmen anzupassen, ihre eigene Natur zu verleugnen, Gehorsam zu üben - koste es, was es wolle. Hoffnung auf eine ferne Belohnung ist der Preis, der dafür entrichtet wird.

So hat die Religion den Menschen nicht nur geformt, sondern auch gezähmt. Aus dem widerspenstigen, unruhigen Wesen wurde ein „Gläubiger“ und ein „Bürger“. Doch diese „Verbesserung“ bedeutete zugleich Schwächung: Der Mensch wurde domestiziert, entmutigt, verfeinert, verweichlicht. Dieser gebrochene, gezähmte Mensch ist heute das Aushängeschild des Westens.

Der Mensch des Orients hingegen stärkt weiter sein Eigenbild, blickt auf den Westen - teils bewundernd, teils kritisch - und hält an der Hoffnung fest, auf den Ruinen einer Zivilisation, die Gott aus ihrer Mitte verbannt hat, den Grundstein für eine neue Welt zu legen.

Über Abdelhak Najib
Übersetzung aus dem Französischen

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