Im Licht der Erkenntnis wächst das Dunkel des Wissens - Je mehr wir denken
Je mehr wir denken, desto mehr erkennen wir unser Nichtwissen
von Abdelhak Najib
Je tiefer wir in die Meditation eindringen, desto berechtigter ist es, zu behaupten, dass wir nichts wissen. Jeder beansprucht eine Rolle, einen Status - einzig und allein, weil er beschlossen hat, ihn zu beanspruchen. Und er richtet sich darin ein. Dies wird zur Regel, zur Gewohnheit, zur zweiten Natur, die schließlich die erste verschlingt und auslöscht.
Der Weg des menschlichen Denkens führt letztlich immer zur gleichen Einsicht: Wer sich mit den großen Geistern der Geschichte auseinandersetzt, wer viel liest, wer in ferne Länder reist und sich unter fremden Himmeln verliert, wer sich der Leere der Welt mit innerer Standhaftigkeit entgegenstellt und den Lockrufen der geistigen Niedrigkeit widersteht, der begreift mit der Zeit: Um zu sich selbst zu finden, muss man vieles verlieren. Dieser Weg zu sich selbst ist lang - und er hat kein endgültiges Ziel. Was auch immer wir tun, woran auch immer wir uns klammern: Wir werden nicht immer ankommen. Aber wir können sagen, dass wir es versucht haben. Bis zum Ende. Unermüdlich. Geführt von einer inneren Linie, die tief aus dem Herzen entspringt und sich durch unsere innersten Schichten zieht. Eine Linie, die uns trägt, ohne je nachzugeben.
Ein kluger Mensch sagte einmal: „Große Bücher zu lesen ist, als ob man sich mit den feinsten Geistern vergangener Jahrhunderte unterhielte.“ Sie lehren uns Mut - den Mut, in gefährliche geistige Räume einzutauchen, sich mit den schärfsten Denkern zu messen, auch wenn man dabei oft verletzt wird. Doch früher oder später wächst man daran. Man wird härter, widerstandsfähiger, geistig immun gegen die allgegenwärtige Dummheit - in jeder Schicht der Gesellschaft, damals wie heute. Es ist ein Irrtum zu glauben, der geistige Verfall unserer Zeit sei ein neues Phänomen. Torheit begleitet die Menschheit seit jeher wie ein Schatten. Dazu gehören Gemeinheit, niedere Triebe, und die Neigung zu allem, was den Geist betäubt und das Denken lähmt. Denn genau dieser klar urteilende Geist ist es, der uns Unabhängigkeit verleiht - die Fähigkeit, uns nicht mit jenen zu verbünden, die den Menschen erniedrigen, anstatt ihn zu erheben.
Die Gesellschaft als Bühne der Masken
Wir leben in einer Welt, die zunehmend von einer geistig verarmten Gemeinschaft bestimmt wird. Diese Gemeinschaft versinkt in Oberflächlichkeit, wird zu einer Bühne, auf der viele nichts anderes spielen als die Rolle geistloser Statisten. Sie tragen nicht zur Handlung bei, sie vertreten einzig das Banner der Mittelmäßigkeit und der dumpfen, triebhaften Masse. Man darf nie vergessen, dass das, was die Menschen gesellig macht, vor allem ihre Unfähigkeit ist, mit der Einsamkeit umzugehen - und damit mit sich selbst. Angesichts dieser Horden, die sich in Gruppen, Zirkeln und Verbänden organisieren, bleibt einem nur: außerhalb des Schwarms zu leben, fern vom Kollektiv.
Niemand kann wissen, was in unserem Herzen vorgeht, noch was sich in unserem Geist bewegt. Niemals sollte man die Dinge des Lebens - und am wenigsten die eigenen - mit jemand anderem in aller Tiefe erörtern. Es ist notwendig, eine gewisse Distanz zu wahren zwischen dem eigenen Wesen und den anderen. So, als hätte man eine andere Mission auf Erden. So, als lebte man auf einem anderen Planeten, mit einem inneren Kampf, der die anderen weder betrifft noch in ihrer Vorstellung existiert. „Von allen Seiten sammeln sich Intrigen gegen ihn; seine verdunkelten Rivalen krächzen rings um ihn; und sein Übermaß an Licht beleidigt die Augen, selbst seiner Freunde - und macht aus ihnen Neider“, schrieb einst der feinsinnige Kenner der menschlichen Kleinlichkeit, Nicolas Boileau.
Gegenüber der Gesellschaft - mit ihren Fallstricken, ihren grausamen Täuschungen, ihren Hindernissen und ihrer unterschwelligen Feindseligkeit, mit ihrer Angst und ihrem Hass auf freie Geister - muss man sich verhalten wie gegenüber einem Kunstwerk: Es gibt keine Antworten, sondern stellt nur Fragen. Sein tiefer Sinn liegt in der Spannung zwischen widersprüchlichen Antworten. So ist die menschliche Gesellschaft: eine Folge von Fragestellungen, begleitet von vorgefertigten Antworten, die nichts weiter sind als Fallstricke, die man erkennen und vermeiden muss. „Der Mensch, der über ausreichend inneren Reichtum verfügt, zieht es vor, außerhalb der Gesellschaft zu bleiben - um nichts geben zu müssen und nichts ertragen zu müssen“, erinnert uns Arthur Schopenhauer.
Reife aus dem Schmerz
Angesichts dieser ausweglosen Situation - nämlich nicht mit den vorherrschenden Ideen übereinzustimmen, eine andere Sicht auf die Welt und ihre zahllosen Ziele zu vertreten, sich dem allgemeinen Verfall zu verweigern, sich nicht einzureihen in die dichten Marschkolonnen, die blindlings dem Schlachthof der Tage entgegenschreiten, sich keiner Gruppe, keiner Partei, keinem Zirkel und keinem Bündnis anzuschließen, sondern aufrecht stehenzubleiben im Gegenwind, der über die benebelten Köpfe der Massen hinwegfegt - da erinnert man sich an jenen Charakter aus dem Labyrinthe de l’Archange, der sagte: „Die Reife, die mich heute auszeichnet, ist kein Gewand, das mir die Tage geschenkt hätten. Ich habe sie aus dem Schmerz gewebt, in der Widrigkeit, angesichts des Schreckens der Tage, angesichts der Leere im Menschlichen, angesichts der Herzensarmut, die diese Welt durchzieht. Die Ruhe, die man in meinen Zügen liest, ist geboren aus meinen Misserfolgen, meinen Abwegen, meinen Niederlagen, meinen Umirrungen. Wenn ich heute aufrecht und standhaft vor den Unwettern stehe, dann nur, weil ich oft gefallen bin - und immer wieder aufgestanden bin. Ich bin an Abgründen entlanggegangen, habe in den Abgrund geblickt und bin bis zum Rand des Schlundes vorgedrungen. Deshalb kann ich heute auf der Schneide des Rasiermessers gehen.“
Diese Fähigkeit verlangt eine gewisse Geschicklichkeit - eine Regel, die unerlässlich ist, wenn man die Menge durchqueren will, ohne von ihr verschlungen zu werden, ohne in ihren Fallstricken zu versinken. Sie erfordert eine große Beweglichkeit, um die tückischen Kurven des Lebenspfades zu meistern. Sie zwingt den Menschen, niemals den vorgetretenen Wegen zu folgen, sondern sich mit jedem Schritt seinen eigenen zu erschaffen - jenen Weg, der sich im Gehen enthüllt, gezeichnet vom Geist auf der Landkarte der Zeit. Und stets mit dem Gedanken im Herzen, dass der Mensch nicht nur Liebe in sich trägt. „Wer nur Liebe in der Welt sieht, ist ebenso töricht wie der, der sie nirgends erkennt.“, sagte Jean Giraudoux. Denn unsere Mitmenschen - wenigstens jene, die es zu sein scheinen - sind ebenso von dunklen Trieben getrieben: von Neid, Eifersucht, Verleumdung, krankhafter Neugier, latenter Bosheit und dem drängenden Wunsch, anderen zu schaden. Aus zahllosen Gründen, von denen jeder seine Abgründe zu rechtfertigen weiß. „Bereite dich schon bei Tagesanbruch darauf vor, einem Zudringlichen zu begegnen, einem Undankbaren, einem Anmaßenden, einem Betrüger, einem Neider, einem Egoisten“, pflegte der Weise Marc Aurel seinen Nächsten zu raten.
Daher kommt das Unglück so vieler Menschen um uns. Manche besitzen allem Anschein nach alles, um ein friedliches Leben zu führen - und doch leben sie in Verbitterung und Leiden. Andere vermögen es nicht, das bloße Glück zu würdigen, am Leben zu sein - hier und jetzt - und machen aus ihrer Existenz ein Gefängnis, das sie auch für ihre Umgebung zur Hölle machen. Und es gibt jene, die schlicht des Lebens nicht würdig sind, weil sie es zur Arena machen, in der sie Schmerz zufügen, Unrecht verbreiten, Licht verdunkeln und das Dasein schwarz einfärben. Arthur Schopenhauer hatte die treffendsten Worte, um die ganze Spannweite des menschlichen Übels zu benennen - jenes Übel, das zum Wesen des Menschen gehört, in seiner schrecklichsten Ausprägung: „In seiner erbarmungslosen Grausamkeit steht der Mensch keiner Bestie nach - weder einem Tiger noch einer Hyäne. Der Staat ist nichts anderes als ein Maulkorb, der die Raubkatze Mensch ungefährlich machen soll, damit sie wie ein Pflanzenfresser erscheint.“
Wird der Mensch sich selbst überlassen, seinen archaischen Trieben ausgeliefert, so ist er zu allem fähig - zum Schlimmsten wie zum Unvorstellbaren. Man täusche sich nicht: Die menschliche Grausamkeit kennt keine Grenzen. In dieser Hinsicht ist das blutigste Raubtier ein unschuldiges Kind im Vergleich zum Arsenal des Bösen, das Menschen sich gegenseitig zufügen können. „Der Grund, warum so viele Menschen es schwer finden, glücklich zu sein, liegt darin, dass sie die Vergangenheit stets für besser halten, als sie war, die Gegenwart für schlechter, als sie ist, und die Zukunft für komplizierter, als sie sein wird“, bemerkte Marcel Pagnol. Dabei hängt sowohl das Gestern als auch das Heute und das Morgen allein von uns selbst ab - und nur von uns. Darin fremde Hände zu vermuten, bedeutet nichts anderes als einen feigen Versuch, sich vor der Verantwortung zu drücken. Wie Leonardo da Vinci es einst sagte: Ab einem gewissen Alter ist jeder Mensch für sich selbst verantwortlich - so wie für seine Taten, seine Entscheidungen und deren Folgen, die er mit Anstand zu tragen hat.
Die dunklen Triebe des Menschen
Das ist das Wesen eines Menschen: seine Fehler anzunehmen, sie zu erkennen, zu versuchen, ihre Abgründe zu überbrücken - wenn er es vermag. Doch vor allem darf er niemals jemand anderen für das verantwortlich machen, was ihm widerfährt. Ein Mensch steht zu sich. Ein Mensch geht weiter. Und selbst wenn er fällt, so steht er doch aufrecht - oder er stirbt als würdiger Mensch. Und vor allem: Er misst dem Urteil anderer keinen übermäßigen Wert bei. „Der Menschen Meinung überzubewerten, heißt, ihnen zu viel Ehre zu erweisen“, mahnt der Autor von „Die Welt als Wille und Vorstellung“.
„Mach dich selbst zu deinem posthumen Werk“, schrieb Tristan Corbière in einer lapidaren Zeile - eine Sentenz, die mit erschütternder Präzision den Weg beschreibt, den jeder Mensch während der kurzen Spanne seiner Existenz einschlagen sollte. Und dabei die Haltung des engen Geistes meidet - jenes Geistes, der, wenn er wiedergibt, was die Intelligenz sagt, niemals eine getreue Übermittlung leistet. Er überträgt es stets für sich selbst, in einer Form, die nur für ihn hörbar und verstehbar ist. Diese verkürzte Denkweise ist verantwortlich dafür, dass der Sinn der Dinge entstellt wird. Sie wirft einen Schleier der Undurchsichtigkeit über das, was klar sein könnte. Daraus ergibt sich eine unumstößliche Wahrheit: Es sind unsere Entscheidungen, die unser Leben formen - nicht Glück, nicht Zufall und nicht das, was manche Schicksal nennen. Unsere Entscheidung, klar sehen zu wollen. Uns nicht selbst zu täuschen, indem wir den Gehalt und die Bedeutung dessen, was unser Leben ausmacht, verzerren - in den kleinsten Einzelheiten. Wer diesen einfachen, aber strengen Grundsatz verinnerlicht, erkennt: Niemand, absolut niemand kann sich der Vorstellung vom Paradies hingeben, ohne zuvor durch die Hölle gegangen zu sein.
Die Abgründe des Menschlichen
Diese Höllen können sich in der Tiefe des Denkens offenbaren - in dem, was es an Schärfe, an Gerechtigkeit, an Logik in sich trägt. Denn mit Strenge und Logik, mit der Fähigkeit, den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen, lässt sich unsere wahre, innere Qualität nur dort messen, wo der Weg durch die Wüste führt - und zwar der Wüste in uns selbst. So sehr man auch versucht, die Leere zu meiden, sie findet uns. Besonders die Leere des Denkens, des intellektuellen Begreifens der Welt. Also ist es besser, ihr in Freiheit entgegenzutreten - sie zu konfrontieren. Was auch immer in dieser Begegnung mit der eigenen Leere oder Substanz geschehen mag: Sicher ist, dass es besser ist, sich ihr zu stellen, als vom Sand verschlungen zu werden. Von der kognitiven Ödnis, der Dürre der Sinne, jener unendlichen Weite des Nichts - des Nichts an Gefühl und seiner Ausdrucksformen, der Emotionen und der daraus hervorgehenden Regungen. Denn man täusche sich nicht: Wer in den Vulkanschlund springt, ist nicht derselbe wie der, den die Lavaströme erfassen und mit sich reißen. Der Unterschied geht weit über eine bloße Nuance hinaus. Und nicht jeder besitzt den Mut eines Empedokles. Wenn wir uns selbst in dieser Weise gegenübertreten, wird zweifelsfrei deutlich: Für jene, die glauben, ist kein Beweis nötig - für jene, die nicht glauben, ist kein Beweis je ausreichend.
Angesichts einer solch unauflösbaren Lage in der Frage, was wir sein sollen und wie wir handeln müssen, greifen viele - die Mehrheit - zu einer allzu einfachen und zugleich instinktiven Haltung: Sie spielen eine Rolle. Sie inszenieren sich als jemand. Denn das ist bequem und gesellschaftlich akzeptiert. Man tut, als sei man eine bedeutende Persönlichkeit - während man oft nichts weiter ist als ein Emporkömmling.
Es ist das Fehlen von Distanz und Urteilsvermögen, das die Welt mit Lärm erfüllt - mit einer grellen Kakophonie aus Stimmen, Geschwätz und Getöse. Alle reden, plappern, schwafeln - in einem nicht enden wollenden Redefluss, der die Luft mit dem Geschrei der Dummheit sättigt. Und je ungeheuerlicher der Unsinn, desto glücklicher scheint sich der Mensch, der ihn äußert. Eine schreckliche Form von Ignoranz, die sich selbst bejubelt - bis hin zur geistigen Völlerei. Und hier zeigt sich: Wahre Unwissenheit ist nicht das Fehlen von Wissen, sondern der entschiedene Wille, es nicht zu erlangen. Ein Wille, der sich zur Gewohnheit macht, alles abzuweisen, was den Zustand der Unkenntnis in Frage stellen könnte. Man klammert sich an die eigene Blindheit, nur um ja kein Licht in den verdunkelten Geist eindringen zu lassen - einen Geist, der in seinem Stillstand versunken ist. An diesem Punkt bestätigt sich die alte Weisheit: „Von allen Tieren auf Erden ist der Mensch das einzige, das ohne Durst trinkt, ohne Hunger isst und ohne etwas zu sagen redet“, wie es John Steinbeck formulierte. Mit anderen Worten: Nur Bäume mit tiefen Wurzeln wachsen auch in die Höhe. Die anderen vermögen keinen Halt zu finden. Der Boden entgleitet ihnen unter den Füßen, weil sie keine Wurzeln haben, kein inneres Gerüst.
Das Glück der Selbstverantwortung
Und hier ist daran zu erinnern: Viele Menschen gehen ihr Leben lang fischen, ohne zu wissen, dass sie nicht nach dem Fisch suchen - sondern nach sich selbst. Und bei jedem Fang wird ihnen bewusst, wie weit sie davon entfernt sind, sich gefunden zu haben. Sie sind verdammt, in trüben Gewässern zu fischen - in Tümpeln, in Pfützen, die sie durch Rühren tief erscheinen lassen. Doch in Wahrheit ertrinken sie in einem fast leeren Glas Wasser...
Und wer sich entschieden hat, durch seine persönliche Wüste zu gehen, der weiß: Es gibt keinen leichten Weg, kein bequemes Ausweichen zur Seite. Man muss den glühenden Himmel über sich aushalten, die brennende Hitze ertragen, den Durst aushalten - und bereit sein, der Leere standzuhalten, die einem dort begegnet.
Inmitten dieser Einsamkeit, fern von Ablenkung und Illusion, kommt schließlich ein entscheidender Augenblick: der Moment, in dem man „Nein“ sagt. Nein zu allem, was die Seele aufreibt und den Geist vergiftet - zur lärmenden Masse, zu falschen Freundschaften, zu Heuchelei, zu Gerede, Feigheit und geistiger Trägheit.
Es ist der Punkt, an dem man sich bewusst abkehrt - vom Kollektiv derer, die nicht denken, nicht fühlen, nicht wachsen wollen. Man beginnt, sich zu schützen. Man verschließt die Tür vor all jenen, die stillstehen, die sich nicht entwickeln, die innerlich versteinert sind wie Marionetten ohne Fäden. Sie merken nicht, dass sie längst in Ketten liegen - unfähig, sich zu befreien oder überhaupt zu erkennen, dass sie gefangen sind.
Diese Menschen fürchten jede Veränderung. Aus Angst erstarren sie - wie Leiber, die noch atmen, aber innerlich längst verfallen sind. Und doch halten sie sich für lebendig, für frei. In Wahrheit aber kämpfen sie nur noch ums bloße Überleben - und tief in sich spüren sie es, auch wenn sie es verbergen. Sie verbrauchen all ihre Kraft, um sich selbst etwas vorzumachen.
Wer jedoch den schwierigeren Pfad gewählt hat, darf sich nicht mit bloßem Überleben begnügen. Er muss lernen, wirklich zu leben - neu, bewusst und aus eigener Kraft.
Geistige Lauterkeit als Lebensregel
„Der geistige Kampf ist so brutal wie der Kampf der Körper“, hatte Arthur Rimbaud gesagt. Der Kampf des Geistes mit sich selbst, bevor man daran denken kann, sich mit dem Geist anderer auseinanderzusetzen - sofern jene überhaupt einen besitzen. Denn unter allen Qualitäten ist es der Geist, an dem es der Menschheit am meisten mangelt. Und eben dieser Geist lässt uns erkennen, dass der wahre Wert der Dinge nicht in ihrer Dauer liegt, sondern in der Intensität, mit der sie eintreten. Darum gibt es unvergessliche Augenblicke, unerklärliche Dinge und unvergleichliche Menschen - wie Fernando Pessoa es ausdrückte.
Wesen, die in uns weiterleben, lange nachdem sie gegangen sind. Geister, die über das gemeine Volk hinwegschweben. Alte Seelen, die in ihrem Bann Tugenden tragen, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen. Mit anderen Worten: Weil die Intuition übermenschlich ist, muss man ihr glauben; weil sie geheimnisvoll ist, muss man ihr lauschen; weil sie dunkel scheint, ist sie Licht - so drückte es Victor Hugo aus. Dieses Licht entstammt notwendig der Kraft und der Lauterkeit jenes Geistes, der weite Wege gegangen ist - ein Geist, der die Welt als Pilger durchschritten hat. Denn was letztlich notwendig ist, ist dies: die Einsamkeit - jene ungeheure, innere Einsamkeit. Zu wandern, tief in sich hinein - und niemandem zu begegnen, stundenlang, tagelang, monatelang. Dies ist der Zustand, den der Mensch erreichen muss - wie es bei Rainer Maria Rilke spürbar wird. Die Einsamkeit dessen, der unentwegt zu sich selbst unterwegs ist. Welche Wege er auch beschreitet, welche Höhen und Tiefen ihn erwarten - er geht weiter. Und wenn er innehält, dann nur für eine kurze Rast. Denn dieser Wanderer hat keine feste Destination. Und eben deshalb hat er sich für Wege entschieden, die nirgendwohin führen.
Und es ist entsetzlich, in einer Zeit zu leben, in der auf das Wort „Gefühl“ mit „Sentimentalität“ geantwortet wird. Doch eines Tages - so die Hoffnung - wird die Empfindsamkeit als das höchste aller Gefühle anerkannt werden, und den herrschsüchtigen Intellekt in seine Schranken weisen.
Die Wüste des Denkens
Romain Gary warnte einst: „Ich weiß, dass das Leben es wert ist, gelebt zu werden, dass das Glück erreichbar ist - man muss nur seine tiefste Berufung finden und sich dem hingeben, was man liebt, mit vollständigem Verzicht auf sich selbst.“ Dabei ist vor allem eines zu beherzigen: Achtet auf die Zeit. Seid sparsam mit ihr. Es ist das schlimmste aller Vergehen, sie zu vergeuden. Denn der Verlust der Zeit ist der einzig unwiederbringliche - wie Michelangelo es nannte.
Und doch werfen alle - fast ausnahmslos - sie zum Fenster hinaus. Sie verschleudern sie. Sie verzehren sie in Tatenlosigkeit, in der Unterwerfung unter alles, was die Seele zermürbt und entstellt. Denn wie Gustave Flaubert schrieb: „Man flüchtet sich ins Mittelmaß, aus Verzweiflung über das Schöne, das man erträumt - und nie erreicht hat, weil man weder seine Seele noch die ganze Glut seiner Leidenschaft hineingelegt hat.“ Ja, denn es ist wahr: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar - wie Antoine de Saint-Exupéry uns lehrte. Diese Wahrheit findet ihr Echo in einer anderen, wiederum bei Flaubert: „Ich bin mit einer absurden Sensibilität begabt. Was andere nur streift, zerreißt mich.“
Wer kann von sich behaupten, eine solche Sensibilität zu besitzen? Nur wenige - ganz wenige. Und weil der Umgang mit solchen Seelen heute nahezu unmöglich geworden ist, muss man sich zurückziehen - so weit wie möglich - von der Masse, den Kollektiven, dem lärmenden Gedränge und all jenen instinktiven Trieben hin zur Überfülle.
Der Lärm der Dummheit
„Ich bin zum Einsiedler geworden, oder, wie sie sagen, zum Menschenfeind - weil mir die wildeste Einsamkeit lieber ist als der Umgang mit den Bösen, deren Nahrung Verrat und Hass ist“, bekannte Jean-Jacques Rousseau - mit gutem Grund. Dabei ist doch alles so einfach und klar: „Das Glück ist oft das Einzige, was man geben kann, ohne es selbst zu besitzen - und gerade indem man es gibt, erwirbt man es“, schrieb Voltaire. Doch diese Welt - die zu allen Zeiten ein feindlicher Ort war für freie Geister und edle Seelen - zeigt heute mehr denn je, wie prophetisch Aldous Huxley war, als er vor beinahe einem Jahrhundert schrieb: „Heute scheint es fast möglich, dass dieses Grauen innerhalb eines Jahrhunderts über uns hereinbricht. Vorausgesetzt, wir sprengen uns nicht vorher schon selbst in Stücke… Uns bleibt nur die Wahl zwischen zwei Wegen: Entweder ein Bündel nationaler, militarisierter Totalitarismen, genährt durch die Angst vor der Atombombe und mündend in die Zerstörung der Zivilisation (oder - wenn der Krieg begrenzt bleibt - in die ewige Fortsetzung des Militarismus); oder aber ein einziger supranationaler Totalitarismus, hervorgerufen durch das soziale Chaos, das aus dem technologischen Fortschritt erwächst.“
Und genau das erleben wir heute - in allen Weltgesellschaften, die unbeirrt dem Chaos entgegenmarschieren und täglich neue Zutaten für ihren kommenden Untergang hervorbringen.
Über Abdelhak Najib*
Übersetzung aus dem Französischen