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Mein erster Besuch in der Medina von Fès

Wer heute durch die Medina von Fès geht, begegnet nicht der Kulisse aus „1001 Nacht“, sondern einer Stadt im Wandel - belebt, widersprüchlich, übervoll und still zugleich.

Café Bou Nania am Bab Boujloud, Foto: Eberhard hahne

Zwischen Souks und Koranversen, Handylärm und Steingeruch trifft der Erzähler auf einen Philosophiestudenten, verliert sich in den Gassen - und findet keine große Wahrheit, aber vielleicht eine Ahnung davon, was es heißt, durch Geschichte hindurchzugehen.

Mein erster Besuch in der Medina von Fès

Bab BoujloudEs ist mein erster Tag in Fès. Ich betrete die Altstadt durch Bab Boujloud - das berühmte blaue Tor. Ein letzter Blick zurück auf den Verkehr, dann ein paar Schritte, und ich bin in einer anderen Ordnung. Nicht still, nicht langsam - eher dichter, lauter, beweglicher.

Fés Madina Talaa SghiraTalaa Sghira und Talaa Lakbira ziehen sich wie zwei Ströme durch die Medina. Keine romantischen Gassen, sondern belebte Korridore: Händler rufen, Ladenbesitzer feilschen, Karren bahnen sich ihren Weg durch Menschentrauben. Es riecht nach Leder, Minze, Koriander, Fleischspießen, Süßem - ein beweglicher Teppich aus Eindrücken.

Es ist Mittag. Die Hitze drückt, der Schatten der Tücher über der Straße fällt ungleichmäßig. Viele Touristen sind unterwegs - mit Kameras, Rucksäcken, Google Maps in der Hand. Einige wirken neugierig, andere erschöpft. Ich bin beides.

Zwischen den Läden hängen Taschen, bunte Gewänder, Kunsthandwerk. Aber auch Fälschungen, grelle Reklame, Fast-Food-Schilder. Kein Stillleben aus vergangener Zeit, sondern ein Markt im Jetzt - angetrieben vom Bild des Gestern.

Ich biege kurz in die Talaa Sghira ab. Sie ist enger, aber nicht weniger belebt. Dann wieder zurück zur Lakbira, die sich wie ein Flusslauf abwärts zieht. Das Gefälle ist spürbar - jeder Schritt führt tiefer in die Stadt, bis sich am Platz von Rceif die Wege öffnen.

Ibn Battuta schrieb 1352: „Ich erreichte Fès, eine der schönsten Städte der Welt - ihre Märkte überquellen von Waren, und in ihren Medresen pulsiert das Wissen.

Die Medersa al-Attarin

Madrassat al Attarin, Foto: Just a Cheeseburger auf Wikimedia.org,Ich erreiche die Medersa al-Attarin über einen schmalen Abzweig, nicht weit von der Qarawiyyin-Moschee. Der Zugang ist unscheinbar. Kein Portal, kein Auftritt. Ein niedriger Türbogen, eine kleine Holzpforte, daneben ein Schild mit Öffnungszeiten. Ich zahle Eintritt. Der Mann an der Kasse blickt kaum auf.

Innen ist es still. Ein Innenhof, umgeben von Galerien. Zedernholz, Mosaik, Stuck. Alles fein gearbeitet, fast unberührt. Kalligraphie in weißem Stuck, über Türen und Nischen - Verse aus dem Koran. Ich setze mich auf eine steinerne Stufe. Symmetrie. Proportion. Stille.

Ich versuche mir vorzustellen, wie es war, als dieser Ort noch lebte - als hier diskutiert, gelernt, rezitiert wurde. Die al-Attarin war eine der bedeutendsten Medresen von Fès. Theologiestudenten lebten hier, viele aus entlegenen Gegenden Marokkos und weit darüber hinaus.

Ein Wärter lehnt an der Wand. Ich frage, ob hier noch unterrichtet wird. Er verneint. Nur noch Besichtigung. Heute finde der Unterricht an modernen Universitäten statt.

Er zeigt nach oben, zu den kleinen Holztüren über den Galerien. Die Schlafräume der Studenten, sagt er. Kalt im Winter, eng im Sommer. Er lacht kurz, dann schweigt er wieder.

Ich danke ihm und trete hinaus. Sofort wieder Hitze, Stimmen, Hupen. Drinnen: Ordnung, Überlieferung, Leere. Draußen: alles gleichzeitig.

Ich bleibe kurz stehen. Ich bin nicht religiös, aber der Raum hat etwas mit mir gemacht. Vielleicht Respekt. Vielleicht Ruhe. Vielleicht etwas dazwischen.

Ein Gespräch mit Youssef

Ich treffe Youssef zufällig. Ich habe mich beim Rückweg leicht verlaufen, stehe an einer Kreuzung und starre auf Google Maps. Youssef steht dort mit einem Notizbuch unter dem Arm und spricht mich auf Französisch an: Ob ich Hilfe brauche?

Ich nicke. Er zeigt mir den Weg, ohne sich aufzudrängen. Wir gehen ein Stück gemeinsam. Er ist 24, studiert Literatur und Philosophie an der Universität Dhar El Mehraz. Turnschuhe, Jeansjacke, Umhängetasche.

Seine Familie lebt seit Generationen in der Nähe von Rceif. Der Großvater war Koranlehrer in einem „M‘sid“ (Koranschule). Jetzt arbeite er im Textilgroßhandel, die Mutter sei Hausfrau.

Fes, Bab Rceif

Wir setzen uns auf eine niedrige Mauer, an einem ruhigen Platz. Ich frage ihn, wie es ist, heute hier zu studieren.

Fès ist stolz auf seine Geschichte“, sagt er, „aber es ist nicht einfach, in ihr zu leben.“ Er meint damit nicht die Altstadt selbst - die liebt er. Es ist der Druck, in einer Stadt zu wohnen, die von außen romantisiert wird, während das Leben innen oft schwer ist. Viele seiner Freunde sind nach Casablanca oder Rabat gezogen. Fès sei schön - aber langsam.

Ich frage ihn, was ihn hält. „Meine Mutter. Und die Sprache.“ Er meint das Arabische - klassisch, poetisch, liturgisch. Er will später unterrichten. „Man muss nicht reich werden“, sagt er, „aber man soll sich ausdrücken können.“

Ein Muezzin ruft. Ich frage ihn, ob er je in einer Medersa gelernt habe. Er lächelt. „Nein. Natürlich nicht. Die Medresen sind leer. Aber wir schauen sie an, als ob sie sprechen.“

Dann steht er auf. Der Bus kommt. Wir verabschieden uns mit einem Kopfnicken.

Ich bleibe noch sitzen. Ich denke an die Medersa. An die Schrift im Stein. Und daran, dass in dieser Stadt nicht nur Mauern bewahrt werden - sondern auch Menschen.

Abend über den Dächern von Fès

Ich sitze auf der Dachterrasse eines kleinen Riads bei Bab Boujloud. Der Ruf des Abendgebets klingt aus verschiedenen Richtungen - nicht synchron, sondern wie ein Echo, das sich an den Mauern bricht.

Die Dächer sind flach, unregelmäßig, gespickt mit Satellitenschüsseln, Wäschestangen, Plastiktüten. Von hier oben wirkt Fès nicht geheimnisvoll, nicht entrückt. Sondern wie das, was es ist: ein Ort, an dem Menschen leben, arbeiten, hoffen.

Ich denke an den Weg hinunter nach Rceif, an das Gedränge, die Müdigkeit. An die Stille der Medersa. An Youssefs Satz: „Die Medresen sind leer. Aber wir schauen sie an, als ob sie sprechen.

Vielleicht ist es das, was Fès heute ausmacht: eine Stadt, die nicht mehr das ist, was sie einmal war - und gerade dadurch eine eigene Sprache spricht. Keine laute, keine leicht verständliche. Eher eine vielstimmige, unterbrochene - aus der Vergangenheit, dem Jetzt, und dem, was dazwischen liegt.

Ich trinke süßen Minztee, sehe in die Dämmerung. Die Stadt hat kein Geheimnis enthüllt, keine große Wahrheit. Nur Stimmen, Schichten, Wege, die sich verzweigen.

Es war mein erster Besuch in der Medina von Fès. Vielleicht bleibt es nicht der letzte. Vielleicht reicht aber auch dieser eine Tag, um zu verstehen: Man kann hier nicht ankommen - nur durchgehen.