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Das Paradies, in dem ich einst lebte

Zauber, Mystik, Schätze ... all das sind Assoziationen, die sich mit Marokko verbinden – aber auch Urlaub, Sonne, Meer, „Hier ist es, das Paradies, in dem ich einst lebte: Meer und Gebirge. Davon bleibt etwas ein ganzes Leben, noch vor der Wissenschaft, der Zivilisation und dem Bewusstsein. 

Das Paradies, in dem ich einst lebte, Foto: Jamaa El Fna, Muriel Brunswig

  Lesprobe aus KulturSchock Marokko, Reise Know How, Bielefeld 2020
  Kulturschock Cover, Foto: Reise-Know-How-Verlag
   

„Hier ist es, das Paradies, in dem ich einst lebte: Meer und Gebirge. Davon bleibt etwas ein ganzes Leben, noch vor der Wissenschaft, der Zivilisation und dem Bewusstsein. Und vielleicht werde ich dorthin zurückkehren, um in Frieden zu sterben.“

Driss Chraibi, einer der bekanntesten nordafrikanischen Schriftsteller, schrieb diesen Satz über seine Heimat: Marokko. Wer nach Marokko kommt, hat Bilder im Kopf, nicht jeder dabei unbedingt „paradiesische“.

Das Land ist so vielfältig, dass es schwerfällt, sich ihm auf nur einer Ebene nähern zu wollen. So viele Gegensätze prallen aufeinander, Gegensätze, die das Leben in Marokko bestimmen: Das moderne Casablanca lächelt milde über das „rückständige“ Marrakesch, die saftigen Wiesen des Nordens spotten der Wasserarmut im Süden. Orthodoxer Islam vermischt sich mit Heiligenglauben, islamische Baukunst mit Berberburgen. Marokko besticht durch seine Gegensätze, im Positiven wie im Negativen. Der Reisende kann in den Genuss der großartigen Gastfreundschaft kommen oder aber, entnervt von „penetranten“ Basarhändlern und falschen Stadtführern, den Urlaub frühzeitig abbrechen. Mit all diesen Gegensätzen wird man konfrontiert, und es ist oft gar nicht so einfach, richtig damit umzugehen.

Marokko ist ein Touristenland - ohne Zweifel

Wo immer man ist, man findet Touristen oder Spuren derselben. Das Reisen wird durch diese Tatsache allerdings nicht leichter. Natürlich gibt es in Marokko eine touristische Infrastruktur, so dass man sich bisweilen an den Stränden der Costa Brava wähnt. Und dennoch: Das alltägliche Leben der Marokkaner ist wenig berührt von dieser Welt. Und setzt man einen Fuß außerhalb der Touristenmeile, muss man sich mit der marokkanischen Realität vertraut machen. Dazu gehört nicht zuletzt die Einsicht, dass Marokko, trotz aller zur Schau gestellten Moderne, ein Entwicklungsland ist: Rund ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Diese Armut prägt das Leben. Der Konkurrenzkampf ist hart, gerade im Tourismusgeschäft.

Wer sich in ein fremdes Land begibt, hat sich meist ein wenig in die (Reise-)Literatur des Landes eingelesen und/oder sich von Freunden und Bekannten Erlebtes erzählen lassen. Und dann kommt man an: Erste Eindrücke legen sich auf vorhandene Bilder, oft ganz anders als erwartet. Wer aus der klimatisierten, geregelten Atmosphäre des Flughafens, der Reisebusse oder der Autofähren ins quirlige Marokko stößt, fühlt sich schnell gestresst: von der Hitze, dem Staub, den vielen Schleppern, den Geräuschen und Gerüchen. Und schon ist man mitten im Kulturschock: Das, was auf einen einströmt, stellt alles bisher Geglaubte in Frage. Vieles, was einem lieb und vertraut ist, scheint nicht mehr zu gelten. Erlernte und anerzogene Umgangsformen werden mit einem Handstreich weggefegt. Selbst Reisende, die schon häufiger in Marokko waren oder sich zuvor intensiv mit Marokko beschäftigt haben, die offen und ohne Angst dem Fremden entgegengehen, haben bisweilen das Gefühl, in einen (Horror-)Film geraten zu sein, fern jeder (europäischen) Realität: Kinderhorden, die einem brüllend und Steine werfend hinterherrennen, Taxifahrer, die einen bei Ankunft an einem Busbahnhof bestürmen, falsche Fremdenführer, die ahnungslose Touristen in Teppichläden zerren, Haschischhändler, die allzu offensiv ihren Stoff verkaufen wollen ...

Woher kommt es, dass man sich - selbst nach längerem Aufenthalt – immer wieder überfordert und so vollkommen fremd fühlt?

Zum einen liegt es natürlich daran, dass man sich nie vollständig von bestimmten Ideen, Vorstellungen und Gefühlen lösen kann. Zum anderen ist Marokko in seiner ganzen Vielfältigkeit eine wahre Attacke auf europäische Ideale und Vorstellungen. Und, Marokko ist kein einfaches Reiseland. Marokko - das bedeutet Stress, man braucht starke Nerven und jede Menge Geduld.

Natürlich kann man es vermeiden, dem Land zu begegnen: Es ist ganz leicht, in Marokko zu reisen, ohne dabei in Marokko zu sein. Manch ein Reiseveranstalter weiß den Kontakt des Urlaubers mit dem „wirklichen“ Land zu verhindern: Viele Gäste Marokkos können nur erahnen, was sich wirklich in Marokko verbirgt. Man schaut zu statt mitzuerleben. Marokko dient dann als Kulisse, als Theater.

Marokko aber ist mehr, viel, viel mehr als diese Kulisse. Der wirkliche Reichtum Marokkos sind seine Menschen, und wer bereit ist, diese kennen zulernen, wird reich beschenkt werden. Doch dafür braucht es vor allem zwei Dinge: Offenheit und Wissen. Wissen über ihre Lebensweise, über die geschichtlichen, ethnischen, religiösen und kulturellen Hintergründe für ihre Denk- und Verhaltensweisen. Manchmal reicht die Offenheit, doch tiefer eintauchen kann nur, wenn sich auch für Hintergründe interessiert.

Doch wer hierzu bereit ist, wird das finden, was Marokko wirklich ist:

Ein Land voller Zauber und Mystik, voller Gegensätze und Schönheiten. Vor allem aber ist Marokko ein Land, das trotz aller Strapazen denjenigen mit seiner Pracht belohnt, der bereit ist, diese zu suchen. Denn: „... ich würde sagen, dass Marokko einer Zimmerflucht gleicht, deren Türen sich öffnen, wenn man hindurchgeht. Man kommt nur weiter, wenn man das Land immer wieder besucht, sich immer aufs Neue wundert und die Neugier bewahrt, es zu verstehen und sich ihm zu nähern. Jede Tür eröffnet einen anderen Ausblick: auf einen Raum, ein Gesicht, eine Stimme, ein Geheimnis ...“. So jedenfalls sieht es Tahar ben Jelloun, der wohl bekannteste marokkanische Schriftsteller. Wer sich also auf die Reise machen möchte, der öffne Augen und Ohren, befreie sich von Klischees und Vorurteilen und versuche, mit Wissen und Verständnis dem bisweilen „seltsamen“ Marokko zu begegnen.

Fotogalerie

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