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Rohlfs-Reise durch Marokko - Ein historisches Zeugnis neu gelesen

Gerhard Rohlfs war einer der ersten Europäer, der das Marokko des 19. Jahrhunderts nicht nur streifte, sondern durchwanderte - verkleidet, verletzlich, neugierig und in vielem noch unerfahren unterwegs. Seine Reiseberichte zeigen ein Land im Wandel und einen Beobachter, der staunen kann und doch in den Mustern seiner Zeit gefangen bleibt.

Rohlfs Reise durch Marokko, BuchcoverEs gibt Reiseberichte, die man liest wie alte Karten: verblasst, ungenau, vom Staub der Zeit bedeckt. Und es gibt solche, die selbst nach anderthalb Jahrhunderten eine Kraft besitzen, die nicht aus ihren Beschreibungen stammt, sondern aus der eigentümlichen Nähe, die sie herstellen - zwischen der Gegenwart und einem Land, das gerade dabei war, sich neu zu erfinden. Die beiden Marokko-Bücher Gerhard Rohlfs gehören zu dieser seltenen Art von Texten. Sie zeigen nicht nur Wege, Städte und Landschaften, sondern ein ganzes Geflecht aus Begegnungen, Irrtümern, Mut, Missverständnissen und Momenten echter Nähe.

Doch ebenso wichtig wie der Originalton des Autors ist der Blick, mit dem ein marokkanischer Leser diese Zeilen heute aufnehmen kann. Idriss Al-Jay, Übersetzer und kritischer Intellektueller, hat die Werke nicht verändert, sondern sie in die Sprache und damit in den Erfahrungshorizont eines arabischsprachigen Publikums zurückgeführt. Dabei lässt er Rohlfs’ Worte unverändert stehen, entschuldigt sie nicht und überhöht sie nicht, sondern macht sichtbar, wo der Reisende genau beobachtet – und wo seine Sprache die Begrenzungen seiner Zeit verrät. So entsteht keine zweite Interpretation, sondern eine Form der Gegenwart, in der ein deutscher Arzt des 19. Jahrhunderts und ein moderner marokkanischer Leser aufeinander treffen, ohne sich je begegnet zu sein.

Die folgenden Seiten sind keine nostalgische Rückschau und keine bloße Beschreibung einer Expedition. Sie erzählen von einer Zeit, in der Reisen immer ein Überschreiten von Grenzen war - geografisch, politisch und kulturell. Und sie zeigen, wie sehr der Blick auf ein Land davon geprägt ist, wer ihn formuliert und wer ihn später wiedergibt.

Wer diesen Text liest, wird Marokko nicht nur mit Rohlfs’ Augen sehen. Er wird zugleich die Distanz spüren, aus der er schrieb - und die Nähe, die Al-Jay ihm verleiht, indem er ihn zurück in die Sprache dieses Landes holt. In dieser Spannung liegt der Reiz. Und vielleicht ist es genau diese Spannung, die sein Werk heute aktueller macht, als es vielleicht je gedacht war.

 


Zwischen Staunen und Irrtum – Rohlfs’ Blick auf Marokko

Ait Benhaddou. Foto Alex Azabacheauf unsplashEs beginnt mit einem Schiff, das von Oran ausläuft. Der junge deutsche Arzt Gerhard Rohlfs steht an der Reling und sieht die Küste hinter sich kleiner werden. Vor ihm liegt das Meer, dahinter ein Land, das er nur aus Berichten kennt: Marokko. Wenige Jahre zuvor hatte er in Bremen Medizin studiert, war den Erwartungen seiner Arztfamilie gefolgt - und dann ausgebrochen. Er schloss sich der französischen Fremdenlegion an, diente als Militärarzt in Algerien und lernte dort, was es heißt, in Zwischenräumen zu leben: zwischen Armee und Zivilisten, zwischen französischer Kolonialmacht und nordafrikanischer Gesellschaft. Nun, am 7. April 1861, verlässt er Oran an Bord eines Dampfers der „Messageries“ in Richtung Tanger.

Er weiß, dass dieser Schritt ihn in eine Grauzone führen wird. Marokko ist formell unabhängig, aber von europäischen Mächten bedrängt, misstrauisch gegenüber Fremden und tief geprägt durch Religion und lokale Machtstrukturen. Ein europäischer Reisender, der in europäischer Kleidung auf eigene Faust durch das Landesinnere ziehen will, hat kaum eine Chance. Rohlfs jedoch will hinein, nicht am Rand bleiben. Seine Lösung ist radikal: Er wird sich verwandeln. Noch auf dem Schiff beschäftigt er sich nicht nur mit Karten und Plänen, sondern mit Worten. Er lässt sich die islamische Glaubensformel, die Schahada, einprägen, Silbe für Silbe. In seinem Bericht beschreibt er später, wie diese Entscheidung fällt: Er habe erkannt, „dass die einzige Möglichkeit, tiefer in das Land vorzudringen, darin bestand, dem äußeren Anschein nach einer von ihnen zu werden“; also legt er europäische Identität ab wie ein Kleidungsstück und versucht, in eine andere Rolle zu schlüpfen.

Als das Schiff Tanger erreicht, legt der praktische Teil dieser Verwandlung los. Rohlfs schert sich den Kopf, zieht eine Djellaba an, schlüpft in gelbe marokkanische Pantoffeln und verbirgt sein letztes Bargeld in einer europäisch wirkenden Mütze, die er unter der neuen Kopfbedeckung trägt. Später schildert er die Ankunft so, dass man den Sand fast unter den Füßen spürt: Das Boot könne wegen der Brandung nicht direkt anlanden, also müsse ihn ein kräftiger Mann „auf den Schultern durch die brechenden Wellen“ an den Strand tragen, wo seine neue Rolle beginnt. Von diesem Moment an geht es nicht mehr nur um Geografie, sondern um Verhalten. Er lernt, wie man aus einem gemeinsamen Tonteller isst, wie man Brot abreißt, ohne gierig zu wirken, wie weit der Blick in Gegenwart von Frauen gehen darf und wo er enden muss. Ein einfacher Begleiter, der ihn ins Landesinnere führt, erteilt ihm Lektionen in unausgesprochener Etikette: Man rede nicht leichtfertig über Waffen, verwende selbst für Gewehrkugeln einen beschönigenden Ausdruck, und man sehe „nie eine Frau direkt an, wenn man als Fremder unauffällig bleiben will“. Rohlfs notiert, dass sein Führer ihn sogar beim Wort „Schüsse“ korrigiert, weil es als zu roh empfunden wird - und ihm nahelegt, lieber von „den Leichten“ zu sprechen, wenn er die Munition meint.

Die erste Etappe führt von Tanger über Assilah nach Larache und weiter nach Ksar El-Kebir. Die Wege sind aufgeweicht vom Regen, Bäche treten über die Ufer, Pferde versinken bis zum Bauch im Wasser. An einer Stelle beschreibt er, wie sie den stark angeschwollenen Oued Lou überqueren müssen und schließlich durchnässt in Assilah ankommen - eine kleine, halbverfallene Küstenstadt, deren Mauern für ihn wie eine Erinnerung an frühere europäische Präsenz wirken. Ein paar Tage später reiten sie von Larache ins Landesinnere. Der Frühling steht über der Landschaft, es riecht nach feuchter Erde und Korkeichenlaub. Aber der Weg ist beschwerlich. Besonders eindrücklich ist seine Schilderung des ersten großen Hindernisses, des Oued Kous bei Ksar El-Kebir:

Der Fluss war so stark angeschwollen, dass wir alle Lasten von den Pferden nehmen mussten, denn die Schuari - die großen Körbe an den Seiten - hingen tief im Wasser und zogen die Tiere fast mit sich. Wir wateten selbst durch die Fluten, das Wasser bis an die Lenden, und das Gepäck wurde auf den Schultern der Leute hinübergetragen. Als wir endlich das andere Ufer erreicht hatten, war ein Gutteil der Sachen durchnässt, und es begann auch noch zu regnen. Nur die Nähe der Stadt tröstete uns, und wir waren froh, nach acht Stunden im Sattel vor dem Funduq halten zu können.

Ksar El-Kebir empfängt ihn mit Schlamm und Gastfreundschaft zugleich. Die Straßen sind unbefestigt, jeder Regen verwandelt sie in zähen Morast. Gleichzeitig erlebt er, wie eine Empfehlung des französischen Konsuls ihm Tür und Tisch öffnet: Ein reicher Notablen, Si Ben Abdallah, nimmt sich seiner an, lässt ihn in einem besseren Quartier unterbringen, versorgt ihn mit Essen und - für ihn besonders wichtig - mit medizinischen Fragen. Rohlfs behandelt Fieber, verordnet Brechmittel und Chinin, lauscht den Klagen der Kranken und beobachtet, wie sehr europäische Arzneien mit einer Mischung aus Skepsis und Hoffnung aufgenommen werden. Er notiert, wie dieser Mann „mit ganzer Seele Europäer hätte werden wollen, wäre da nicht die Furcht vor dem Zorn des Sultans gewesen“.

Bald steckt Rohlfs mitten in einem Leben auf Wanderschaft. Nächte verbringt er im Inneren einfacher Bauernhäuser, ein einziger Raum ohne Fenster, nackte Wände, gestampfter Lehmboden, das Dach aus aufeinandergelegten Zweigen und Schilf. An anderer Stelle schläft er in einem Douar, einem Kreis aus Zelten, in dessen Mitte das Vieh steht, während die Hunde nachts die unsichtbare Grenze bewachen. Über eine dieser Nächte schreibt er, er habe auf der bloßen Erde gelegen, „mit nichts als einer Matte unter mir und dem dumpfen Schnauben der Tiere um mich, und doch sei der Schlaf tiefer gewesen als in manchem europäischen Bett“.

Er wandert durch Dörfer, in denen Gäste selbstverständlich im Gebetshaus übernachten. Er beschreibt mit einem leichten Staunen die Sitte, nach dem Abendgebet im Dorfmoschee-Kämmerchen große Schüsseln Couscous oder Bohnenbrei hereinzutragen. Die Männer verteilen sich um die Schalen, die Gäste essen einfach mit. Danach bekommen die Kinder die Reste, die Frauen essen später im Haus. In allen diesen Szenen versucht er, nicht nur von außen zu schauen, sondern sich hineinzuversetzen - auch wenn sein Blick selten ganz frei von Distanz ist. Besonders deutlich wird das, wenn er über das Gebet schreibt. In einem längeren Abschnitt schildert er, wie er die öffentliche Frömmigkeit erlebt - und wie sie ihm zugleich authentisch und theatralisch vorkommt:

Der gewöhnliche Marokkaner versteht, dass er beim Gebet durch die Haltung seiner Frömmigkeit einen Grad von Heiligkeit erlangt, der ihn vor den Augen der Menschen erhöht. So erhebt er seine Stimme bis zur nasalen Heiserkeit, gibt ihr einen seltsamen, freudigen Rhythmus, richtet seine Augen gen Himmel und wirkt mit seinem ganzen Körper wie entrückt aus dieser vergänglichen Welt; man möchte meinen, er schmelze vor Andacht. Und doch liegt darin nicht viel mehr als Gewohnheit. Die Worte, mit denen er sich an ‚Allah‘ wendet, versteht er selbst kaum, es sei denn, er sei sehr gebildet. Denn das Arabisch des Korans ist von der heutigen Sprache so verschieden wie das Lateinische von den romanischen Sprachen. In Marokko achtet man darauf, gesehen zu werden, wenn man betet, und ebenso, laut zu sprechen, wenn man nicht gesehen wird, damit man wenigstens gehört werde.“

Solche Passagen sind für Al-Jay Schlüsselstellen: Hier zeigt sich, wie nah Rohlfs kommt - und wie sehr er zugleich an der Oberfläche seiner eigenen Urteile hängen bleibt.

Ein besonderer Kulminationspunkt seiner ersten Reise ist die Begegnung mit Ouezzane und der dortigen Zawiya, dem religiösen Zentrum der Schorfa. Er erlebt nicht nur den Alltag, sondern eine religiöse Ekstase, die ihn einerseits erschreckt, andererseits fasziniert. In einer der eindrücklichsten Passagen beschreibt er die Prozession der Anhänger des großen Scherifs, die sich selbst blutig schlagen:

Die Wunden, die sie sich selbst zufügten, hatten ihre Körper von Kopf bis Fuß mit Blut besudelt; manche schlugen sich auf die Nase, dass das Blut in einem Strom hervorschoss, andere schnitten an ihren Lippen, wieder andere ritzten Brust und Gesicht, um in ihrer Weise Gott und den großen Scherif zu ehren und ihre Ergebenheit gegenüber dem Nachkommen des ‚Lieblings Gottes‘ zu bezeugen. Ihr Ruf ‚Allah, Allah‘ steigerte sich zu einem wahren Geheul. Einige hatten hervortretende Augen und sahen aus wie von Wahnsinn befallen, andere schäumten vor dem Mund. Die am meisten Ergriffenen drängten sich geradezu vor die Hufe des Pferdes, als wollten sie sich von ihm zertreten lassen. Mit einem einzigen Sporenstoß konnte der Scherif sein Pferd in diese Masse stoßen lassen, die sich an beiden Seiten des Weges drängte. Ich sah, wie auch ihn eine Gänsehaut überlief, und er war wohl nicht weniger froh als ich, als wir endlich die eigentliche Zawiya, das Heiligste von Ouezzane, erreicht hatten.“

Solche Szenen zeigen, wie stark Rohlfs nicht nur Räume, sondern Emotionen registriert. Zugleich schwingt in seinen Beobachtungen immer ein europäisches Urteil mit. Es gibt Stellen, an denen er den „marokkanischen Menschen“ als „den freigiebigsten auf Gottes Erde“ lobt - und gleich darauf seine Religion oder Bildung als rückständig abtut. Genau diese Ambivalenz macht sein Werk so spannend - und so problematisch.

Idriss Al-Jay, der marokkanische Übersetzer seiner Bücher, verschweigt diesen Widerspruch nicht. In seiner Einleitung zum ersten Band betont er, dass das Buch die vielleicht präziseste europäische Quelle über das alltägliche Leben im Marokko der Mitte des 19. Jahrhunderts sei, mit detailreichen Schilderungen von Kleidung, Häusern, Festen, Speisen, Ritualen und politischen Konstellationen, wie sie in arabischen Quellen jener Zeit nur selten so konkret überliefert sind. Zugleich schreibt er, man könne „die offenkundigen Vorurteile des Autors gegenüber diesem Menschen, seinen Werten und seiner Geschichte nicht übersehen“ und auch nicht die „Verfälschungen, ja bisweilen bewussten Verzerrungen, besonders wenn es um das Religiöse“ gehe.

Bemerkenswert ist der Umgang, den er damit wählt. Er korrigiert Rohlfs nicht. Im Gegenteil: Er lässt dessen Fehler stehen, lässt falsche Begriffe und missverständliche Wendungen bewusst unangetastet und erklärt, er habe „die Fülle der Irrtümer nicht ausführlich kommentiert, um dem Leser nicht die Freude an der eigenen Lektüre zu nehmen“. Er vertraut darauf, dass der moderne Leser fähig ist, selbst zu sehen, wo der Reisende überzieht. Wo Rohlfs beispielsweise die Freitagspredigt mit dem Freitagsgebet verwechselt oder islamische Fachwörter falsch gebraucht, belässt Al-Jay das im Text und weist im Vorwort nur allgemein darauf hin, dass dies nicht Folge mangelnden Wissens der Muslime sei, sondern Teil der Begrenztheit des europäischen Blicks.

Während der ersten Reise wird Rohlfs für eine Zeit lang Arzt im Dienst des marokkanischen Militärs, dann persönlicher Arzt des Sultans Sidi Mohammed ibn Abd ar-Rahman. Er erhält Zugang zum Hof, sieht die Machtkämpfe, die Spannungen zwischen Reformwillen und religiösem Konservatismus, erlebt außenpolitische Konflikte aus der Nähe. In den späteren Kapiteln beschreibt er, wie sehr Marokko in jener Zeit von europäischen Interessen bedrängt wird und wie zögerlich die Herrscher darauf reagieren. Er berichtet zum Beispiel von der Situation der europäischen Konsulate und erwähnt, dass ein französischer Konsul in Essaouira einmal schlicht nicht akzeptiert worden sei, „weil es dem marokkanischen Herrscher nicht beliebte, ihn als Vertreter anzuerkennen“, und dass noch in den 1840er Jahren Konsuln ohne große Förmlichkeiten zum Verlassen des Landes gedrängt werden konnten.

In solchen Momenten zeigt sich Rohlfs als scharfer Beobachter politischer Dynamiken - doch auch hier bleibt er der außenstehende Europäer, der seine Schlüsse aus einem begrenzten Ausschnitt zieht.

Über den Atlas und in die Wüste

Atlasgeebirge. Foto Imane auf unsplash

Drei Jahre nach seiner ersten Reise kehrt Rohlfs zurück. Diesmal nicht als vollkommen Unbekannter, sondern als jemand, dessen Berichte bereits Aufmerksamkeit erregt haben. Die zweite Reise, die er später unter dem Titel „Reise durch Marokko, Übersteigung des großen Atlas, Exploration der Oasen von Tafilet, Tuat und Tidikelt und Reise durch die große Wüste“ veröffentlicht, führt noch weiter: über Meknès und den Hohen Atlas hinunter in die Oasen von Tafilalt, weiter nach Tuat und schließlich bis nach Tripolis.

Der Ton des Buches verschiebt sich. Die detailreichen Alltagsbeobachtungen sind noch da, doch stärker rückt jetzt die Geografie in den Vordergrund. Rohlfs denkt in Höhenmetern, Flussläufen, Landschaftstypen. Er notiert Temperatur, Luftdruck, Vegetation, beschreibt steinige Plateaus und schattenlose Ebenen. An einem Punkt seiner Sahara-Reise schildert er eine beinahe endlose Etappe durch die Hammada, eine trostlose Steinwüste:

Wir brachen um halb drei Uhr morgens auf, der Boden unter uns war nichts als lose Steine, auf denen Mensch und Tier stolperten. Mein Diener war so erschöpft, dass er nicht einmal mehr den Teppich auszubreiten vermochte; wir legten uns, ohne Decke und ohne Feuer, einfach auf die Steine. Am nächsten Tag fanden wir nicht einmal trockenes Holz, um Brot zu backen, und mussten uns mit Datteln begnügen. Bis zum Rande der Hammada wandelte sich das Bild nicht; nichts unterbrach die Öde als die leichte Wölbung der Erde.“

Besonders eindringlich ist eine Passage, in der er das Erreichen der Oase Tamentit in Tuat beschreibt. Nach einem mühsamen Marsch durch Sand und Hitze, bei dem Kamele stolpern, Lasten herunterfallen und der Reiseproviant knapp wird, sieht er in der Ferne endlich Palmen. Er schreibt, die Tiere hätten „wie von selbst den Schritt beschleunigt, sobald sie das Grün wahrnahmen und Wasser witterten“, und er selbst habe in dem Moment gespürt, wie „das Leben mit einem Mal wieder zurück in den Körper“ kehrte. Die Oase erscheine ihm „wie eine Insel in einem Meer aus Sonne und Stein“.

Solche Beobachtungen geben Einblicke in die soziale und physische Geschichte der Oasenregionen, die weit über Marokko hinausreichen. Gleichzeitig spiegeln sie wieder den europäisch gefärbten Blick auf „Schwarze“ und auf religiöse Minderheiten, auf den Idriss Al-Jay im Kommentarrahmen hinweist. Rohlfs staunt etwa über die Fülle der Dattelsorten in Tuat, und aus seiner technischen Aufzählung wird ungewollt ein poetischer Abschnitt:

Zu den Erzeugnissen von Tuat gehören vor allem die Datteln. Es gibt ihrer so viele wie bei uns die Äpfel. Für diejenigen, die sich besonders für diese Frucht interessieren, nenne ich hier nur einige: Tilenosos, Tenhud, Tenoshidin, Tenolisha, Dakli, Tinosah, Tzalzat, Tazkmit, Ahada, Tafilhani, Tentermit, Tazmamat, Bouchlouf, Tuwarka, Tinahourt, Tinbourari, Tinli, Tinava, Takisa, Tizzaut, Tazkmit, Tinhainli und Oqschisch. Die Palmen selbst erreichen in Tuat eine Höhe von siebzig Fuß und tragen die ganze Last des Lebens, das sie nährt.“

Zwischen den nüchternen Listen blitzen solche Momente auf, in denen der nüchterne Forscher fast zum Dichter wird. Doch die Wüste ist nicht nur schön. Sie ist gefährlich, politisch wie physisch. In Ksar Kerdzaz etwa, einem Ort zwischen Tafilalt und Tuat, wird ihm unmissverständlich klar gemacht, wie unsicher die Gegend ist:

Ich hatte die Absicht, die große Zawiya eine Stunde oberhalb von Kerdzaz zu besuchen und das Grab der Vorfahren des jetzigen Scheichs zu sehen. Es blieb ein frommer Wunsch, denn die Umgebung ist so unsicher, dass man mich nicht allein fortgehen ließ. Täglich hörten wir von Überfällen, und alle Bewohner erklärten mir, es sei ein Wunder, dass ich überhaupt lebend hier angekommen sei. Der Scheich machte mir deutlich, dass ich von hier nur mit einer großen Karawane weiterreisen könne; denn das Gebiet unterhalb, bis zwei Tagesreisen weit, steht im Besitz der Ahl Ghleima, und diese kümmern sich wenig um das äußere Kleid des Mohammedanertums. Es zeigte sich schon darin, dass sie selbst im heiligen Monat Ramadan nicht fasten, sondern für jedes Dorf etwa dreißig Männer bestimmen, die es ‚für alle‘ tun. In Marokko oder anderen streng islamischen Ländern würde ein solches Vergehen den Tod bedeuten.“

Solche Passagen zeigen: Rohlfs ist nicht naiv. Er weiß, dass seine Reise jederzeit abbrechen kann - durch Krankheit, durch Hunger, durch einen Speer.

Rohlfs stellt sich selbst gern als nüchternen, wissenschaftlich orientierten Beobachter dar. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe, das Al-Jay in seiner arabischen Fassung mitübersetzt, betont er, er habe darauf verzichtet, die Reise nachträglich literarisch auszuschmücken. Man hätte, so schreibt er sinngemäß, im Nachhinein die Erlebnisse „phantasiereicher verzieren“ und spannender erzählen können, doch das wäre auf Kosten der Wahrheit gegangen. Gerade in wissenschaftlichen Reisen müsse „die Genauigkeit und die möglichst sachliche Betrachtung Vorrang haben vor der Popularität des Reisenden“, und manchmal leide die Beliebtheit darunter, aber „für den, der Länder betritt, die noch nicht erforscht sind, ist es die Hauptpflicht, die Wahrheit nüchtern und den Blick unparteiisch zu halten“.

Ganz so unparteiisch, wie er sich selbst sieht, ist er freilich nicht. Immer wieder polemisiert er gegen Reiseberichte anderer Forscher, korrigiert deren Karten, widerspricht früheren Beschreibungen von Flussläufen oder Seen. Wenn er etwa die Gegend von Oued Drâa und den sagenumwobenen „See“ bei Zagora diskutiert, zitiert er französische Autoren, die von einem großen Süßwassersee sprechen, „auf dem die Eingeborenen navigieren und fischen“, und kommentiert diese Darstellung mit trockenem Spott:

Die große ‚Süßwassersee‘ bei Zagora ist nichts als eine Salzpfanne, die nur zeitweise Wasser führt. Wer von Fischerei und Booten spricht, hat sich wohl mehr von der Phantasie als von eigener Anschauung leiten lassen.“

Dass seine eigene Darstellung wiederum nicht frei von Fehlannahmen ist, macht Al-Jay transparent. Er lässt Rohlfs’ korrigierende Schärfe stehen, zeigt aber im Vorwort, dass auch dieser „Korrektor“ aus seiner Epoche heraus urteilt. So entsteht eine doppelte Perspektive: die eines deutschen Reisenden des 19. Jahrhunderts und die eines zeitgenössischen marokkanischen Übersetzers.

Besonders spannend wird das an der Schnittstelle von Wissen und Macht. Rohlfs’ zweite Reise ist nicht nur eine Abfolge von Landschaftsbildern, sondern auch ein Beitrag zur damals stark expandierenden Geographie Afrikas. Ein befreundeter Geograf fasst die Bedeutung seiner Expedition später in neun Punkten zusammen und betont, die Ergebnisse hätten nicht nur das Verständnis der westlichen und mittleren Regionen Marokkos vertieft, sondern auch neue Einsichten in die Struktur des Atlas, in die Bedeutung von Tafilalt und Tuat als Oasengruppe und in die Handelswege zwischen Marokko und dem zentralen Sahara-Raum gebracht. Gleichzeitig, so heißt es dort, seien Rohlfs’ Aufzeichnungen „für Frankreich von besonderem Nutzen“, weil sie Planungen erleichterten, „den Zugang zu diesen Regionen zu finden, ohne den Verdacht der dortigen Stämme allzu sehr zu erregen“.

Das ist der Punkt, an dem sich der wissenschaftliche Pionier und die koloniale Wirklichkeit unweigerlich berühren. Rohlfs selbst denkt in Kategorien von Entdeckung, Präzision, Korrektur - andere lesen seine Karten später als Einladung zur Expansion. In der von Idriss Al-Jay übersetzten Fassung bleiben diese Spannungen sichtbar. Er verschweigt nicht, dass der Reisebericht in Europa als geopolitischer Schlüssel gelesen wurde; er macht auch deutlich, wie sehr solche Texte zur Vorbereitung auf spätere Eingriffe in die Region beitrugen.

Am Ende stehen zwei sehr unterschiedliche Stimmen im Raum, die sich dennoch um dasselbe bewegen: ein Land, seine Menschen, seine Landschaften. Gerhard Rohlfs schreibt aus der Perspektive eines neugierigen, ehrgeizigen Europäers, der den Schleier lüften will und überzeugt ist, objektiv zu beobachten. Idriss Al-Jay liest ihn aus der Perspektive eines Marokkaners, der dieses Land von innen kennt und weiß, wie sehr jede Beobachtung von außen eingefärbt ist. Er lobt Rohlfs, wo dieser genau ist, und widerspricht ihm im Subtext dort, wo er sich in Vorurteilen verfängt. Er hält dem europäischen Blick einen Spiegel hin - und macht ihn damit erst wirklich lesenswert.

Für den heutigen Leser liegt die Stärke dieser beiden Bücher im Spannungsfeld, das sie miteinander eröffnen. Man begleitet Rohlfs auf seinen Wegen über Märkte und Gebirge, übernachtet mit ihm im Douar, spürt die Kälte der Steinwüste und die Erleichterung beim ersten Blick auf eine Oase - aber man liest zugleich mit dem Wissen, dass dieser Mann immer ein Gast blieb, ein Beobachter im Durchzug, ein Fremder mit der Möglichkeit zur Rückkehr. Erst die Übersetzung von Idriss Al-Jay gibt diesem Blick ein Echo. Sie macht Rohlfs’ Beobachtungen nicht größer und nicht kleiner, sondern durchsichtig. Sie bringt seine Worte zurück in das Land, aus dem sie einst fortgetragen wurden, und erlaubt eine Lektüre, in der Bewunderung und Kritik nebeneinanderstehen dürfen.

So entsteht kein glatter Reisebericht, sondern ein Dialog über Zeit, Wahrnehmung und Macht. Ein Deutscher aus dem 19. Jahrhundert beschreibt ein Land, das er kennenlernen wollte - und ein marokkanischer Übersetzer antwortet, indem er seine Stimme hörbar macht. Zwischen beiden liegt ein Jahrhundert, aber im Text begegnen sie sich. Wir lesen heute nicht nur, was Rohlfs sah, sondern ebenso, was ihm entging.

Gerade deshalb lohnt sich die Rückkehr zu diesen Büchern. Sie zeigen ein Marokko im Moment des Übergangs, sichtbar durch zwei Augenpaare, die sich nicht gleichen und sich doch ergänzen. Wer Rohlfs heute liest, liest Al-Jay mit - und wer Al-Jay liest, erkennt Rohlfs erst wirklich. In dieser Doppelbewegung entsteht ein Bild, das nicht abgeschlossen ist, sondern offen: ein Raum, in dem Geschichte neu gedacht werden kann.