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In der Zeit des Wassers - Symbolik der amazighischen Märchentradition

In einer Welt der Geschwindigkeit und funktionalen Sprache wirkt das alte Erzählen wie ein leiser, aber beharrlicher Widerstand. Die Volksmärchen Nordafrikas - über Generationen mündlich weitergegeben - sind mehr als Geschichten für Kinder. Sie sind poetische Archive, symbolische Enzyklopädien und spirituelle Kompasse zugleich. Youssef Toufik widmet ihnen sein eindrucksvolles Werk „في زمن الماء - In der Zeit des Wassers: Studien zur Symbolik der amazighischen Erzähltradition“, das nicht nur als wissenschaftliche Studie, sondern als kultureller Akt der Wiederbelebung zu lesen ist.

 

In der Zeit des Wassers - Symbolik der amazighischen MärchentraditionIn einer Zeit, in der alte Geschichten zunehmend dem Vergessen anheimzufallen drohen, tritt Youssef Toufik mit seinem Werk „In der Zeit des Wassers als kundiger Vermittler auf, der die verschütteten Bedeutungsströme des mythischen Erzählens der Amazigh neu zum Fließen bringt. Er widmet sich darin nicht nur den Märchen im engeren Sinne, sondern ihrer Tiefenstruktur - ihrem religiösen, psychologischen und anthropologischen Gehalt. Das Buch ist eine Einladung zur symbolischen Reise durch die Mythen, Vorstellungen und seelischen Landschaften Nordafrikas.

Die Zeit des Wassers - Märchen als Gedächtnis der Schöpfung

Der Titel des Werkes verweist bereits auf eine mythische Urzeit: „Zaman al-Ma’“, die „Zeit des Wassers“. Es ist die Epoche vor der Zeit, in der die Welt noch nicht geformt war, aber das Potenzial zur Schöpfung in der Wasserfläche ruhte. Diese Anrufung des Ursprungs durchzieht die Erzählungen wie ein Grundmotiv. So schreibt Toufik: „Die Zeit des Wassers kann der Moment der ersten Schöpfung sein, als das ursprüngliche Wasser die Welt durchdrang.“

In diesen Urzeiten wurzeln die amazighischen Erzählungen. Sie sind keine einfachen Kindergeschichten, sondern verschlüsselte Erinnerungen an die Menschwerdung, an die ersten Fragen, die der Mensch an das Universum stellte - und an die Antworten, die er sich in Bildern, Mythen und Symbolen schuf.

Drei symbolische Achsen: Religion, Psyche, Kultur

Toufik entfaltet seine Analyse entlang dreier Deutungsebenen, die er nicht schematisch voneinander trennt, sondern poetisch und analytisch zugleich miteinander verschränkt: die religiöse, die psychologische und die anthropologische Dimension.

Die religiöse Dimension offenbart sich insbesondere in den Mythen der Schöpfung, des Kosmos und der Transzendenz. Die amazighische Vorstellung vom Kosmos ist dabei kein isolierter Sonderfall, sondern ein Echo uralter Menschheitsbilder. Der Kosmos ist dreigeteilt: Himmel, Erde und Unterwelt. In der Symbolik erscheint der Kosmos als „Weltbaum“, als axis mundi, durch die göttliche Ordnung in das Chaos eintritt. „Der Weltbaum erscheint im Zentrum des Universums, und in ihm vollziehen sich alle Rituale.“

Die psychologische Ebene deutet Toufik mithilfe der Psychoanalyse. Für ihn sind die Märchen wie Träume zu lesen, in denen das Unbewusste der Gemeinschaft sich artikuliert: „Die symbolische Sprache ähnelt der Sprache der Träume.“

Er folgt damit einer Tradition, die von Freud über Jung bis Bettelheim reicht, und begreift die Märchen als „kollektive Träume“, in denen sich Kindheit, Angst, Begehren und Transzendenz spiegeln.

Die anthropologische Perspektive wiederum erschließt die Märchen als kulturelles Archiv. In ihnen offenbaren sich soziale Strukturen, Riten des Übergangs, Tabus und Vorstellungen des Heiligen und Unreinen. Die Märchen werden so zum ethnografischen Gedächtnis der Amazigh: „Die Volksmärchen sind ein reiches Archiv ethnographischer Informationen.“

Vom heiligen Zentrum zur Unterwelt - Mythologische Topographien

Himmel, Erde und Unterwelt, Foto mit Hilfe von Gemini erstelltEin zentrales Motiv der Erzählungen ist das Konzept des Zentrums der Welt: jenes mythische Zentrum, das als Nabel der Welt gilt, wo Himmel, Erde und Unterwelt sich berühren. In diesem Zentrum steht meist ein Baum oder ein Berg - Träger des axis mundi, durch den der Mensch mit dem Göttlichen verbunden wird. Die vertikale Bewegung des Aufstiegs symbolisiert dabei das Streben nach Transzendenz, die Horizontale das Leben in der Gemeinschaft, die Abwärtsbewegung den Abstieg in das Unbewusste oder das Jenseits.

Ein besonderes Augenmerk legt Toufik auf die Darstellung der Unterwelt, die häufig in Form einer unterirdischen Getreidegrube - der Muttmura - erscheint. Diese wird in den Märchen oft zur metaphorischen Hölle: „Die Muttmura verweist auf den Begriff der Hölle bei Babyloniern und Sumerern.“

Durch diese mythologischen Räume wandeln die Figuren der Märchen - nicht als lineare Helden, sondern als Suchende zwischen den Welten.

Die Sprache der Vögel - Transzendenz durch Flug

Ein besonders poetisches Kapitel widmet sich der Symbolik der Vögel. In den Erzählungen der Amazigh sind sie nicht nur Tiere, sondern Boten zwischen Himmel und Erde, oft mit spiritueller oder prophetischer Bedeutung. Sie verkörpern Sehnsucht, Schönheit, Transformation. Der Flug steht für die Überwindung der Erdenschwere - ein uraltes Bild für mystische Erfahrung: „Die Vögel drücken Bedeutungen von Erhebung und Verzückung aus.“

Diese Symbolik erinnert an sufische Allegorien, christliche Ikonographie (die Taube des Heiligen Geistes) und archaische Initiationsriten, bei denen das Federkleid den Übergang zur Anderswelt markiert.

Youssef ToufikYoussef Toufik - Forscher zwischen Sprache und Mythos

Youssef Toufik ist ein marokkanischer Forscher, Essayist und Kulturwissenschaftler, der sich dem Studium der symbolischen Dimensionen der amazighischen Kultur verschrieben hat. Toufik vereint philologische, ethnographische und religionswissenschaftliche Methodik mit poetischem Feingefühl und großer Sprachmächtigkeit. Seine Arbeit ist kein bloßes wissenschaftliches Projekt, sondern ein Akt kultureller Rückgewinnung.

Ein Buch als Brücke

Mit „In der Zeit des Wassers“ hat Youssef Toufik ein außergewöhnliches Werk vorgelegt: ein Buch, das die Tiefendimensionen einer fast vergessenen Erzählkultur freilegt und sie in den großen Strom menschlicher Symbolgeschichte einbettet. Es ist nicht nur ein Beitrag zur Amazigh-Forschung, sondern ein Plädoyer für das Erzählen selbst - als spirituelle, gesellschaftliche und poetische Praxis.

Das Buch liest sich wie eine Karte zur inneren Geografie des Menschen, ein Kompass, der auf alte, aber nicht veraltete Wahrheiten verweist. Toufik zeigt: Wer Märchen nur als Kindersache abtut, verkennt ihre eigentliche Größe.