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Marrakesch, einzigartige Melodien der Sehnsüchte und Hoffnungen - Ich fühle mich hingerufen

Seite 2 von 5: Ich fühle mich hingerufen

Marrakech Jamaa El Fna, Der Gauklerplatz wird Abends zum "Restaurant" umgebaut, Foto: Eberhard Hahne

Aus irgendeinem Grund fühle ich mich nach Marrakesch, der Stadt mitten in Marokko hingerufen, einer Stadt, die wahrscheinlich noch zu den letzten Orten der Welt gehört, die an die Zeit der Tausendundeinen Nacht erinnern.

Immer wieder habe ich Städte besucht, wo ich das Gefühl hatte, dass die dort lebenden Menschen nur zu Besuch in ihrer eigenen Stadt waren, sie sich nicht wirklich dort zu Hause fühlten. In Marrakesch habe ich das Gefühl, dass alle dort zu Hause sind - die Einheimischen, aber sogar auch die Besucher. Die Menschen von Marrakesch werden in Marokko auch "die Glücklichen" genannt“. Keine Frage, auch in Marrakesch gibt es Unglück und Trauer; dennoch scheint dieser Ort vielen ein besonderes Glücksgefühl zu schenken, welches auch Außenstehende und Kurzreisende erkennen können.

Marokko liegt an der nordwestlichen Küste Afrikas. Nach antiker Meinung bildet die nördlichste Landspitze des Kontinents zusammen mit Gibraltar die Säulen des Herakles, hinter denen, aus dem Mittelmeer kommend, die große Welt zu Ende ist und das blaue Meer am Rande der Erdscheibe in die Tiefe hinabstürzt. So die antike Überlieferung.

Marrakesch ist über tausend Jahre alt - 1062 wurde sie gegründet. Das wunderbare Gefühl in meinem Herzen, als ich es zum ersten Mal sah, liegt inzwischen fast zehn Jahre zurück: Ein Gefühl, das mir half, endlich mein Herz und vielleicht auch meine Seele wahrzunehmen und damit zu beginnen, mit beiden zu sprechen.

"Früher", so beschrieb es der Schriftsteller Tahir Shah, "war Marrakesch die Belohnung einer langen Reise." Vielleicht ist es aber die Belohnung einer Reise zu meinem mir geschenkten Herzen. "Auf den Karawanen", so Tahir Shah weiter, "erzählte man sich wochenlang geheimnisvolle Geschichten über die rote Stadt Marrakesch, lange bevor man sie erstmals zu Gesicht bekam." So sollte es bei allen Orten sein, so sollte es auch bei Menschen sein - dass man sich lange vor einem ersehnten Wiedersehen unzählige Geschichten ausmalt.

Was ist aber mit meinem Herz gemeint, was mit meiner Seele? Wo sind diese örtlich angesiedelt, oder haben sie beide den gleichen Ort? Oder sind sie eins?

Dieses besondere Gefühl, dass mein Herz berührt wurde von diesem geheimnisvollen Ort, ist viele Jahre alt. Es kam in mir auf, als ich zum ersten Mal gegen Abend in Marrakesch auf diesem vielleicht außergewöhnlichsten Platz der Welt stand: dem Platz Djemaa el Fna. Hier sollte man eintauchen, auch wenn der Grund wegen des unüberschaubaren Menschentreibens vorerst nicht erkennbar erscheint. Djemaa el Fna bildet das Zentrum der Stadt, vielleicht sogar - wie manche Marokkaner und vor allem die Menschen aus Marrakesch, die "Marrakschis", glauben - das Zentrum der ganzen Welt. Früher war dieser Platz eine der gefürchtetsten Hinrichtungsstätten überhaupt. Hier wurden die Schädel der Verurteilten und Geköpften mit Salz eingepökelt und monatelang zur Warnung für alle an den Toren der Stadt zur Schau gestellt. Übersetzt bedeutet Djemaa el Fna: Versammlungsort der Toten.

Elias Canetti beschrieb nach seiner Reise über Djemaa el Fna in seinem Buch "Die Stimmen von Marrakesch" sehr treffend dieses Gefühl, welches auch ich mehr und mehr in mir spürte: "Mir war zumute, als wäre ich nun wirklich woanders, am Ziel meiner Reise angelangt. Ich mochte nicht mehr weg von hier, vor Hunderten von Jahren war ich hier gewesen, aber ich hatte es vergessen und nun kam mir alles wieder. Ich fand jene Dichte und Wärme des Lebens ausgestellt, die ich in mir selber fühle. Ich war dieser Platz, als ich dort stand. Ich glaube, ich bin immer dieser Platz.“

An einem der zu wenigen Abende auf dem Platz sah ich an einem der unzähligen weißen Essstände auf einen Teller mit Merguez, maghrebinischen etwas scharfen Bratwürsten. Im Original wird die Merguez aus zartem Lammfleisch hergestellt und ist kräftig gewürzt. Ihre dunkle und rot schimmernde Farbe und den würzigen, zum Teil scharfen Geschmack verdankt sie der Harissa, einer scharfen Chilipaste mit einem Hauch von Koriander, Kreuzkümmel und Knoblauch. Seit mehr als 20 Jahren esse ich kein Rotfleisch, eigentlich ohne dass ich einen echten Grund dafür nennen könnte. Ich bestelle stets Fisch oder Geflügel. Es scheint, als ob ich mir eigene Regeln, eigene Gesetze geben muss, um mich zu ordnen, um eine Orientierung zu haben. Nur allzu oft habe ich das Gefühl, das Maß, die Dosis zu vergessen.

Beim Anblick der verführerischen Merguez fragte ich mich, ob es nicht an der Zeit sei, dieses Gelübde aufzuheben. Ich sagte mir, dass es wohl keinen schöneren Platz geben konnte, mit einer derartig alten Regel zu brechen. Marrakesch befreite mich von dieser Fessel. Die Merguez schmeckten hervorragend, zerflossen regelrecht an meinem Gaumen. Eine Stadt ist und wird dann wunderbar, wenn Sie einem hilft, nach dem Sinn alter und eingefahrener Dinge zu fragen, die unauffällig die Jahre überstanden haben. Wie kam ich zu dieser Gewohnheit? Hat es Sinn, sie weiter zu pflegen? Was passiert, wenn ich sie aufgebe? Ähnlich ist es mit vielen Dingen, auch in der Beziehung zwischen zwei Menschen.

Viele der Dinge, die zwischen zwei Menschen passiert sind und passieren, werden nicht hinterfragt, werden einfach weiterverlebt, nicht gelebt. Nur wenn es einen Ort, einen Menschen gibt, der einem hilft, diese Dinge wahrzunehmen, kann man sie verändern. Bei meiner persönlichen Geschichte mit der Merguez-Bratwurst in Marrakesch war die Lösung des alten "Schwurs" eine echte Befreiung, die weit mehr als die zusätzliche Fleischsorte auf meinem Speiseteller bedeutet. Marrakesch, dafür danke ich dir.

Nun fahre ich wieder nach Marrakesch
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