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Gewebte Erinnerung: Eine Rückkehr nach Assaka und zu mir selbst

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Was vermag ein Teppich, handgeknüpft von Frauenhänden im Licht des Antiatlas, zu erzählen? Mehr als Worte je fassen könnten. Es sind Fäden der Erinnerung, der Würde, der Selbstermächtigung - Geschichten, die schweigen, bis jemand sich die Mühe macht, zuzuhören. In einem abgelegenen Dorf im äußersten Süden Marokkos wurde mir bewusst, wie wenig ich über meine Herkunft wusste - und wie viel sie noch zu sagen hat.

Teppichknüpferei, Foto mit Hilfe von Gemini erstellt

Es war nie mein Vorsatz, im äußersten Süden Marokkos zu landen - in einem Ort namens Assaka („Morgen“), dessen Name, wie ein Versprechen klingt. Ich, in Fès großgeworden, inmitten von Zellij-Mosaiken, den steinernen Erzählungen der Medersa, mit der selbstverständlichen Überzeugung, die kulturelle Mitte beginne an meiner Türschwelle, hatte kaum eine Vorstellung davon, was jenseits der Atlaslinien liegt. Der Süden - das war für mich ein ferner Klang, folkloristisch allenfalls, ein anderer Rhythmus. Die Amazigh-Kultur, ihre Zeichen, ihre Gesänge, das ländliche Leben: Es war nie Teil meines inneren Vokabulars.

Und doch wurde diese Reise mehr als ein Besuch. Sie wurde Heimkehr. Nicht geografisch - sondern seelisch. Eine Rückbindung an das, was unterhalb der Oberfläche meines Selbst lange geschlummert hatte. Es war Fatima Mernissi, die große Denkerin und Soziologin, die mir diesen Weg gewiesen hat. Ihre Spuren führten mich nach Assaka - und zu mir selbst.

Fatima Mernissi: Die Soziologin, die mit dem Herzen forschte

Mernissi war keine Beobachterin am Rand der Gesellschaft, sie war Teil ihres Pulsschlags. Ihre Bücher - Der politische Harem, Scheherazades Schwestern - öffneten Räume für muslimisch geprägte weibliche Subjektivität, lange bevor Europa bereit war, solche Diskurse als modern zu begreifen. Doch sie beließ es nie beim Schreiben. Sie lebte mit jenen, über die sie forschte. Sie lernte von ihnen. Sie hörte zu.

In den 1990er Jahren führte ihr Weg nach Assaka, ein abgelegenes Dorf im Antiatlas. Eine Frau namens Lhajja Mbarka - auch bekannt als Fatima Naji - wurde dort ihre Vertraute, ihre Verbündete. Zwischen ihnen entstand kein Entwicklungsprojekt, sondern ein Dialog, ein gemeinsames Weben von Vertrauen. Die Soziologin aus Rabat wurde Teil eines dörflichen Kosmos - nicht als Beobachterin, sondern als Mitwirkende.

Teppiche als Archive des gelebten Widerstands

Die Frauen von Assaka weben keine Dekoration. Sie weben Erinnerungen. Ihre Teppiche sind Archive - gelebte Geschichten in Farbe und Form. In jedem Knoten liegt Widerstand, in jeder Linie Würde. Als Mernissi einen dieser Teppiche kaufte, war es mehr als ein Kaufakt: Es war ein politisches Zeichen. Für Lhajja Mbarka war es das erste Mal, dass sie ihre Arbeit gegen Geld tauschte - ein leiser Moment, doch revolutionär.

Mernissi blieb nicht bei Geste und Symbol. Sie brachte Akademikerinnen ins Dorf, Filmemacherinnen, organisierte Weiterbildungen, unterstützte die Gründung einer Frauenkooperative. Ihr Ziel war unmissverständlich: Die Frauen sollten selbst den Rahmen für ihr Tun gestalten. Nicht Fremdbestimmung, nicht Hilfe aus überlegener Hand – sondern ein Miteinander, getragen von gegenseitigem Respekt und der Würde des Gleichgewichts.

Ein Licht auf den Süden: Wiederbegegnung mit der eigenen Herkunft

Ich war auf der Suche nach Inspiration. Und fand mich, während die Frauen sangen und webten, plötzlich inmitten meiner eigenen Geschichte wieder. Vor meinem inneren Auge tauchte das Gesicht meiner Großmutter auf - mit dem tätowierten Zeichen der Amazigh auf dem Kinn: das Yaz, Symbol für den freien Menschen. Ich hatte es nie verstanden, hatte es für ein Ornament gehalten. Nun sah ich: Es war ein Ruf. Eine Erinnerung. Ein Spiegel.

Fatima Mernissi hat nicht nur Strukturen analysiert. Sie hat Frauen sichtbar gemacht - und dadurch auch mir selbst geholfen, mich zu sehen. Ihre Botschaft war klar: Freiheit wird nicht importiert. Sie wird erinnert. Sie ist kein lautes, sondern ein konsequentes Unterfangen. Und beginnt dort, wo wir lernen, wirklich zuzuhören - besonders jenen, deren Stimmen nie gelernt haben, sich selbst für bedeutend zu halten.

Der Rahmen, der befreit

Nur wer seinen Rahmen selbst setzt, erkennt das ganze Bild“, sagt ein Sprichwort. In Assaka traf ich Frauen, die genau das tun. Ihre Kooperative ist kein Produktionsort, sondern ein lebendiger Raum weiblicher Selbstbestimmung. Sie singen, weben, beschließen gemeinsam. Und was sie tun, ist tiefer als jede Theorie - es ist gelebte Philosophie.

Was wäre, fragte ich mich, wenn wir - Akademikerinnen, Studentinnen, Städterinnen - diese Frauen als Vorbilder nähmen? Nicht, um sie zu verklären, sondern um von ihrem Mut, ihrer schöpferischen Kraft und ihrer Solidarität zu lernen?

Ein Vermächtnis, das weiterwirkt

Fatima Mernissi ist 2015 gestorben. Doch sie lebt weiter - in Dörfern wie Assaka, in den Stimmen von Frauen, in handgewebten Erinnerungen. Ihre Vision einer pluralen, inklusiven marokkanischen Moderne - feministisch, sozial gerecht, tief verwurzelt in lokalen Wirklichkeiten - ist dringlicher denn je.

Ich verlasse Assaka mit einem Teppich unter dem Arm - und einer neuen Landkarte im Herzen. Es ist die Karte einer Erinnerung, die mich heimgeholt hat. Der Süden ist nicht Peripherie. Er ist Ursprung. Und vielleicht - das habe ich dort gelernt - ist er auch unsere Zukunft.

Autorin Imane El Guennouni

 

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