Gaza: Stimmen, die sich dem Schweigen widersetzen
Idriss Al-Jays Text zu „Gaza: Augenzeugen“ ist keine klassische Filmkritik. Er beschreibt nicht, er legt frei. In einer Sprache, die sich jeder Beschönigung verweigert, folgt er den Stimmen des Films und überträgt ihre Wucht in eine Erzählform, die ebenso ruhig wie unerbittlich ist. Al-Jay schreibt nicht über Bilder, er schreibt aus ihnen heraus. Seine Sätze tragen die Last der Zeugnisse weiter, ohne sie zu glätten oder zu erklären.

Eine schwarze Leinwand. Ein Junge ruft nach seinem Vater. Papa, Papa. Seine Stimme mischt sich mit Lärm und Rufen, ein Gedränge aus Geräuschen, das einen Moment lang anhält und dann plötzlich abreißt. Stille breitet sich aus. Eine verstörende Stille, in der der Atem stockt. Nicht nur auf der Leinwand, sondern im Cosima Filmtheater im Südwesten Berlins. Das Bild versinkt in Dunkelheit und Leere, in einer Grabesstille.
Anhand der Bilder und Stimmen von sechs palästinensischen Schauspielerinnen und Schauspielern, die Montage, Recherche und Darstellung zugleich übernommen haben, gerät man als Zuschauer in einen ungewöhnlichen Film. Ein kollektives Werk, das auf Augenzeugenberichten beruht, auf Geschichten aus dem Inneren der Hölle, aus dem Inneren der Ereignisse in Gaza. Unterzeichnet ist diese kollektive Zeugenschaft von Salwa Nakkara aus Haifa, Hossam Al Madhoum aus Gaza, Ahmad Tobasi aus dem Flüchtlingslager Jenin, Atallah Tannous aus Tarshiha, Aseel Farhat aus Nazareth und Fadwa Qamhiaaus Nablus. Die Dramaturgie stammt von der israelischen Regisseurin Ofira Henig und die Kamera führte Aleko Gotscheff.
Es ist ein Film, der mehrere Zeugnisse von Bewohnerinnen und Bewohnern Gazas versammelt und ein breites Spektrum an Geschichten, Haltungen und persönlichen Erfahrungen einfängt. Geschichten, vorgetragen von palästinensischen Künstlerinnen und Künstlern, die aus diesen Stimmen ein Gewebe entstehen lassen, in dem Tod und Leben, Verzweiflung und Spott, Schrecken und Entmenschlichung nebeneinanderstehen. Aus Gaza heraus, im Bewusstsein dessen, wohin die Vernichtung führt, wird der Film zu einem bleibenden Zeugnis, zu einem, das sich nicht auslöschen lässt. Ein Zeugnis über die Grausamkeit der Besatzung und des zerstörerischen Krieges, und zugleich über einen unbeugsamen Willen zu überleben. So kündigte die Rosa Luxemburg Stiftung als Produzentin des Films ihre Einladung an, Gaza: Augenzeugen zu sehen.
Über dem Klang des Kontrabasses, den Fadwa Qamhia spielt, verwandelt sich Musik in einen Aufschrei der Fremde, in Anklage, in Protest. Der Klang ist in Bitterkeit und Zorn gehüllt. Fadwa Qamhia spielt nicht einfach, sie führt den Bogen, als würde sie an den Knochen des Unglücks selbst ansetzen. Auch sie legt Zeugnis ab, Zeugnis über die Ungeheuerlichkeit und die Brutalität, und über den Entschluss, die Vernichtung bis zum Ende zu treiben.
Die Raketen fielen auf unsere Gebäude, eines nach dem anderen. Unsere Häuser brachen vor unseren Augen zusammen. Wir sahen, wie sie ohne Erbarmen zerstört wurden und im nächsten Augenblick zu Asche wurden. So lautet die Aussage von Mohammed, eines Sohnes jener kleinen, Stadt Al-Zahra, die uns Nähe und Sehnsucht lehrte und diesem Schrecken nicht gewachsen war.
Die Zeugnisse verteilen sich über den Film in einer steigenden Bewegung. Ihr Rhythmus, die Spannungen ihres Erzählens, die innere Dramaturgie, all das wird durch das Spiel des Kontrabasses durchkreuzt. Diese Verschränkung wirft den Zuschauer in Verlorenheit und zwingt ihn in Fragen hinein, in Fragen über die Lügen und das Gerede der Medienapparate und über Gesetze, die groß daherkommen und in der Wirklichkeit zertreten werden. Das Menschenrecht auf Leben sei geschützt und heilig und unantastbar, so heißt es im Völkerrecht!
Der zweite Dezember war der Tag der zweiten Vorführung von Gaza: Augenzeugen im Cosima Filmtheater, nach der Eröffnungsvorführung am Vortag im Kino der Stadt im Norden Berlins. Fünfzig Minuten dauern diese Bilder. Sie vergehen wie im Flug. Denn die Struktur dieses Films ist voller menschlicher Botschaften, eingewickelt in das Bittere des Schwarzweiß. Diese ästhetische Strenge vertieft die Wucht des Erzählten. Trotz der Schlichtheit, trotz des Verzichts auf Effekte, steigert der Film den inneren Siedepunkt der Empörung. Mit der Sprache der Bilder und dem Nachhall der Stimmen, den die Darstellenden mit großer Professionalität tragen, vermittelt er das Leiden eines Volkes in mündlichen dokumentarischen Zeugnissen, und die fortgesetzten Verbrechen des Besatzers.
Mit dem verbindenden „Und“ beginnen wir unseren Tag. Wir schauen nach unseren lieben. Wer hat überlebt. Wer ist zur Ruhe gekommen. Alle Namen der Getöteten tragen dieses Und. Getötet wurde einer und seine Mutter und seine Kinder, und sein Viertel, und sein Gedächtnis, und seine Träume, und Tage, die nie kommen durften.
Das Publikum in beiden Vorführungen war ein besonderes Publikum, ausgewählt, vorbereitet darauf, schreckliche Zeugnisse zu sehen und zu hören, anders als das, was gewöhnlich aus Lautsprechern und Fernsehschirmen dringt. Es war bereit, Wahrheiten zu begegnen, die aus dem Inneren des Ortes kommen, aus den Mündern von Menschen, die diese Katastrophen leben, und von denen manche sie bis heute leben. Katastrophen, vor denen Regime die Augen verschließen und sie dann weit öffnen für eine Fußball Weltmeisterschaft. Dieses Publikum kam, um die Wahrheit zu hören, ohne Schmuck, ohne Schminke. Eine nackte, direkte Wahrheit. Geschichten, die ihre Erzählerinnen und Erzähler selbst erlebt haben und nicht von anderen nacherzählen.
Mein Name ist Waseem. Ich bin dreizehn Jahre alt. Zum ersten Mal wurde ich bombardiert, als ich mit dem Fahrrad neben der Abu-Hussein-Schule im Flüchtlingslager Jabalia spielte. Als ich wieder zu mir kam, lag mein Bein neben mir, zerfetzt, in Stücken, und das Blut lief. Ich wurde ins Al-Ahli-Krankenhaus gebracht.
Dann stürmten die Juden das Krankenhaus. Ich lag auf dem Bett. Sie zogen mich ohne jeden Grund heraus. Meine Hand war verbunden, mein Kopf bandagiert. Einer von ihnen sagte zu dem anderen: „Mach ihm ein Ende.“ Dann schoss er mir ins Herz (Waseem hebt sein Hemd, um die Stelle der Kugel zu zeigen). Ich bat um Wasser. Ich sagte, ich habe Durst. Sie nahmen das Wasser, gossen es aus, tranken selbst davon und spuckten mich an. Danach sagten sie zu mir: Geh in den Süden, dort ist es sicherer. Ich ging den ganzen Weg auf meinen Krücken. Al meine Mutter mich sah sagte sie: Lieber wäre mir, er wäre als Märtyrer gestorben.
Wenn man diese Zeugnisse hört, getragen von den Stimmen und Gesichtern der Darstellenden, stellt sich ein körperliches Unbehagen ein. Es ist, als würde sich der Magen zusammenziehen. Im Kopf drängen sich unzählige Fragen: über das, was man Entwicklung nennt, über Fortschritt und über die Zivilisation, zu der der Mensch angeblich gelangt ist. Zugleich offenbart sich die Leere jener Parolen und Hochglanzversprechen von Menschenrechten, die überall zur Schau gestellt werden. Hier liegen sie unter Füßen, zertreten von Rücksichtslosigkeit, begleitet von Schweigen und von Feigheit.
Eine Zeugenaussage folgt der nächsten. Sie treten dicht an dicht hervor, getragen von Gesichtern und Stimmen, lebendig und unverstellt. In ihnen liegt etwas Unmittelbares, eine Wahrhaftigkeit, die man beinahe körperlich wahrnimmt. Jede einzelne Aussage bildet ein Fragment, und gemeinsam fügen sie sich zu einem Mosaik, das Zeugnis ablegt von einer umfassenden Vernichtung.
Mein Name ist Malik. Ich komme aus dem Flüchtlingslager Jabalia. Die Soldaten zwangen mich, eine Militäruniform anzuziehen. Sie setzten mir eine Kappe mit einer Kamera auf den Kopf und befahlen mir, Häuser zu betreten. Dabei bedrohten sie mich mit dem Tod und mit körperlicher Gewalt. Sie schlugen mich und drohten, mir gezielt an empfindlichen Stellen des Körpers weh zu tun, falls ich mich ihren Anweisungen verweigere.
Zweiundvierzig Tage lang missbrauchten sie mich für diese gefährliche Aufgabe. Fünfzehn Mal wurde ich gezwungen, Häuser zu betreten. Sie gaben mir Kopfhörer, über die ich die Befehle des Soldaten hören musste. Manchmal verlangten sie von mir, elektrische Leitungen zu durchtrennen, weil sie fürchteten, sie könnten mit Sprengsätzen verbunden sein. Sie schrien mich an: Du wirst explodieren, nicht wir. Als ich schließlich wieder ins Freie kam, schossen sie auf mich. Ich blieb am Leben, um erzählen zu können, was geschehen ist.
Der Film versammelt so viele Geschichten, dass jede einzelne Bilder hervorruft, die selbst die Leinwand kaum zu tragen vermag. Es sind Erzählungen über das Leiden des palästinensischen Menschen, innerhalb des Landes ebenso wie außerhalb. So spricht Hossam Al-Madhoun, ein Sohn Gazas, der in Kairo festsitzt. Das Filmteam reiste zu ihm, um seine Stimme in die Zeugenschaft aufzunehmen. Innerhalb der dramaturgischen Struktur des Films sagt er: Ich bin jetzt hier, in Kairo. Ja, nicht in Berlin. Palästinenser aus Gaza zu sein reicht aus, um ein Visum ohne jeden Grund abzulehnen. Ohne Erklärung. Einfach Palästinenser aus Gaza. Dort in Berlin arbeiten meine Kolleginnen und Kollegen gemeinsam. Sie wachen zusammen auf, frühstücken gemeinsam und gehen ins Studio. Ich hätte bei ihnen sein können. Aber es geht nicht. Wie sollte ein Palästinenser aus Gaza nach Berlin kommen. Normalerweise beantragt man ein Visum, wartet zwei oder drei Wochen auf eine Antwort. Dieses Mal kam die Antwort schneller als ein Augenblick. Abgelehnt. Kein Visum. Nur weil ich Palästinenser aus Gaza bin.
Der Film beschränkt sich nicht auf Bilder der Finsternis und auf eine Erzählung reiner Schwärze. Zwischen den Szenen finden sich auch Bilder des Lebens und einer unbeugsamen Fähigkeit, weiterzumachen. Der Film erhebt keine Klage und sucht kein Mitleid. Er zeigt Wirklichkeit, und diese Wirklichkeit wird getragen von Augenzeugen, nicht von medialen Stellvertretern. Selbst dort, wo der Ton ins Heitere kippt, bleibt im Lachen eine Bitterkeit zurück.
Wir wollten lachen, uns ein wenig Luft verschaffen. Also organisierten wir, ich und Haitham und meine Freunde, ein Fest zu Ehren der Esel, die den Menschen in Gaza in jeder Phase des Krieges beigestanden haben. Wir kleideten die Esel in farbige, seidene Stoffe, in Gelb, Flieder, Grün und Rot. Wir setzten ihnen Hüte mit Blumen auf und ließen sie über einen roten Teppich schreiten, den wir zwischen den Trümmern der Häuser ausgebreitet hatten, wie bei den großen internationalen Film und Kunstfestivals. Das Fest beschränkte sich schließlich auf diesen fröhlichen Gang der Esel über den Teppich.
In Gaza sind Esel wertvoller geworden als Gold. Sie sind zu einem unverzichtbaren Mittel geworden, um sich fortzubewegen, Waren zu transportieren, Verwundete und Kranke zu tragen, vor allem nachdem Benzin und Diesel ausgeblieben sind.
Nach jeder Vorführung von „Gaza: Augenzeugen“ wird das Gespräch mit dem deutschen Publikum eröffnet, in Anwesenheit einiger der am Film beteiligten Darstellerinnen und Darsteller. Viele der Fragen und Wortmeldungen sind von Vorsicht geprägt. Die Worte werden sorgfältig gewählt, fast abgewogen, als gelte es, etwas nicht auszusprechen. Die Vernichtung bleibt oft unausgesprochen, obwohl sie den Raum erfüllt.
Und dennoch hat der Film etwas in Bewegung gesetzt. Jenseits der offiziellen Gespräche entstehen Dialoge zu zweit, in kleinen Gruppen, nach dem Ende der Vorführung. Der Film wirkt weiter, leise, aber hartnäckig. Niemand, der „Gaza: Augenzeugen“ gesehen hat, kann danach einfach schlafen gehen. Die Bilder kehren zurück, die Stimmen, die Stille. Erfahrungen, neben denen selbst die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus in der Wahrnehmung des Autors nur noch wie ferne, fahle Schatten erscheinen.
Über Idriss Al-Jay
Übersetzung aus dem Arabischen