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Marokko der Geschichten - Wenn Worte wie Wasser fließen

Am Abend des 9. Juli 2025 erhoben sich in Rabat die Stimmen der Märchenerzähler - getragen von uralten Legenden und begleitet von betörenden Melodien, die die Zeit zu durchdringen schienen.

Marokko der Geschichten Plakat Ausgabe 22, Foto: Najima Thay Thay

Die marokkanische Hauptstadt wurde zum Herzschlag der 22. Ausgabe des Internationalen Festivals „Marokko der Geschichten“, das von der Internationalen Akademie „Morocco Storytelling für immaterielles Kulturerbe“ mit großer Hingabe veranstaltet wurde. Kaum hatte das Festival begonnen, zog es sein Publikum in den Bann einer Welt, in der Worte nicht bloß erzählt, sondern gelebt werden – Geschichten als fließende Ströme, durchdrungen von Erinnerung, Identität und der Tiefe menschlicher Erfahrung.

Unter dem sinnbildreichen Leitmotiv Die Legende von Isli und Tislit* (siehe weiter unten) - unter tausendundeiner Geschichte“ öffnete sich das Festival einem tieferen Nachklang mündlicher Überlieferung. Inmitten der schillernden Vielfalt stand ein schlichter, doch kraftvoller Gedanke: „Deine Geschichte ist Wasser – erzähle sie, und sie wird dich tränken.“ Diese Worte sind mehr als ein poetisches Bild – sie erinnern daran, dass Geschichten wie Wasser durch die Zeit fließen: bewahrend, verbindend, nährend.

Dass das Symbol des Wassers den thematischen Mittelpunkt bildete, war kein Zufall. Es galt dem Gerrab, jenem ikonischen marokkanischen Wasserverkäufer, der mit seinem kunstvoll gefertigten Behälter aus gegerbter Rinderhaut durch die Städte und Dörfer zog – nicht nur als Spender des lebensspendenden Elements, sondern auch als Träger eines unsichtbaren Schatzes: der mündlichen Tradition. In seiner Figur verdichten sich Alltag und Poesie, Handwerk und Erinnerung – ein lebendiges Bindeglied zwischen Wasser und Wort. In einer bewegenden Geste des Respekts wurden mehrere dieser traditionellen Wasserträger während der feierlichen Eröffnung für ihren Beitrag zum kulturellen Gedächtnis des Landes mit Ehrenurkunden gewürdigt – eine stille Huldigung an ein immaterielles Erbe, das in seiner Schlichtheit berührt.

Najima Thay Thay bei der Ausgabe 22, Foto Najima Thay ThayNajima Thay Thay, Direktorin des Festivals, hob in ihrer Eröffnungsrede die universelle Kraft des Erzählens hervor. Das Festival, so betonte sie, sei „ein lebendiger Ort der Worte, ein Speicher kollektiver Erinnerung, in dem die Kunst des Geschichtenerzählens als Brücke der Verständigung, der Offenheit und des Dialogs gefeiert wird.“ Und in der Tat: In der diesjährigen Ausgabe verschmolzen Stimmen aus aller Welt mit jenen Marokkos zu einem gemeinsamen Klang. Geschichten, Musik und Gesang verbanden sich zu einer leuchtenden Collage kultureller Vielfalt - zu einem Fest des Geistes, das Grenzen überwand und die Tiefe der Menschlichkeit spürbar machte.

Einen besonderen Akzent setzte in diesem Jahr die Teilnahme der Republik Panama, die als Ehrengast eingeladen wurde. Panamas Botschafterin in Marokko, Isbeth L. Queil Murcia, bekundete in bewegten Worten ihren Stolz über diese Wahl. Sie sprach von einer „Bestätigung der kulturellen und menschlichen Bande, die Panama und Marokko verbinden - ein Zeichen gelebter Offenheit und Annäherung zwischen zwei Welten.“ Mit ihrer Teilnahme schlug Panama eine symbolträchtige Brücke über den Atlantik - von den Küsten Lateinamerikas zu denen Afrikas. Die Botschafterin erinnerte daran, dass die thematische Würdigung des Wassers unmittelbar an den Panamakanal und die großen Flüsse ihres Landes anknüpfe - jene „Lebensadern, die Kontinente und Kulturen miteinander verbinden und ein unvergänglicher Teil des geografischen wie auch des menschlichen Gedächtnisses der Welt geworden sind.

Najima Thay Thay und Baba Achour, Ausgabe 22, Foto Najima Thay ThayNoch bis zum 13. Juli entfaltet sich in Rabat ein vielfältiges, reichhaltiges Programm. Neben einer Fülle eindrucksvoller Erzählungen öffnet das Festival Räume für Kinder und Jugendliche, in denen Sprache spielerisch erlebbar wird. Diskussionsforen und wissenschaftliche Beiträge erweitern den Horizont des Austauschs, während künstlerische Ehrungen die schöpferische Kraft der mündlichen Tradition würdigen.

So erweist sich die 22. Ausgabe des Festivals „Marokko der Geschichten“ nicht lediglich als kulturelles Ereignis, sondern als lebendige Feier des Erinnerns - als Huldigung an das gesprochene Wort, an das Wasser als Quelle des Lebens, und an jenes kollektive Wissen, das Menschen, Generationen und Kulturen miteinander verbindet. Es lädt ein, einzutauchen in jenes stille Fließen der Worte, das unsere Wurzeln berührt - und uns einander ein Stück näherbringt.


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Die Legende von Isli und Tislit - Eine Berber-Romeo-und-Julia-Geschichte

Isli und Tislit, Fotos visitdraatafilalet.com

Tief verborgen in den majestätischen Höhen des marokkanischen Atlasgebirges lebt eine uralte Legende weiter - überliefert von Generation zu Generation, in der Sprache der Imazighen, getragen von Liedern und flüsternden Stimmen am Feuer: die Geschichte von Isli und Tislit, zwei Liebenden, deren Namen bis heute in zwei spiegelgleichen Seen weiterklingen.

Isli, ein junger Mann vom Stamm der Aït Atta, und Tislit, ein Mädchen vom Stamm der Aït Haddidou, begegneten sich auf einem traditionellen Fest, das einst die Berberstämme zusammenbrachte. Inmitten von Tanz, Gesang und Farben blühte zwischen den beiden eine zarte Liebe auf - rein, aufrichtig und doch gefährlich. Denn die beiden Stämme waren einander seit jeher feindlich gesinnt, und ihre Verbindung wurde zur verbotenen Sehnsucht.

Als ihre Liebe ans Licht kam, verweigerten die Familien die Einwilligung zur Vermählung. Verzweifelt, von ihren Welten verstoßen, zogen sich Isli und Tislit zurück - jeder für sich, doch vereint in ihrer Trauer. Die Legende erzählt, dass sie sich an zwei gegenüberliegenden Stellen im Gebirge niederließen und bittere Tränen vergossen - so viele, dass sich aus ihren Tränen zwei Seen formten: Isli (der Bräutigam) und Tislit (die Braut), die bis heute bei Imilchil liegen, hoch oben in der marokkanischen Bergwelt.

Diese Seen, fast einander gegenüberliegend und doch durch unüberbrückbares Land getrennt, sind bis heute stille Zeugen einer Liebe, die selbst über den Tod hinaus sprach. Ihre Geschichte ist nicht nur ein Symbol tragischer Zuneigung, sondern auch ein Mahnmal für die zerstörerische Kraft von Zwietracht - und für die ewige Sehnsucht des Menschen nach Verbindung.

Jedes Jahr im Spätsommer findet in Imilchil das sogenannte „Heiratsfest“ statt - eine Tradition, die dieser Legende entstammt. Junge Menschen aus den umliegenden Dörfern kommen zusammen, um einander kennenzulernen und Verbindungen einzugehen - frei, offen, im Geist von Isli und Tislit. Was einst als Trennung begann, wird so Jahr für Jahr zur Feier der Einigung.

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