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Ahidus: Der Tanz aus dem ich gemacht bin

Es gibt Tänze, die mehr sind als Bewegung. Sie sind Erinnerung, Gebet, Gemeinschaft - ein stiller Bund zwischen Körper und Klang, eingespannt in einen Kreis, der keinen Anfang kennt und kein Ende. Ahidus, der alte Berbertanz aus dem marokkanischen Atlas, gehört zu diesen Tänzen. Er wird nicht vorgeführt - er wird geteilt. Er ist keine Kunstform, sondern eine Weise, in der Welt zu sein.

Berbertanz Ahidus, fiktives Foto mit Hilfe von Gemini erstellt

Bendir, Foto Catrin auf Wikipedia.orgWenn Männer und Frauen sich nebeneinander aufstellen, die Schultern leicht aneinandergeschmiegt, wenn der Bendir (Rahmentrommel) den Takt vorgibt und die Stimmen sich zu einem vielstimmigen Ruf verweben, wenn die Schritte jenen Spuren folgen, die schon vor Jahrhunderten den Staub der Erde zeichneten - dann ist es, als würde etwas Gemeinsames erwachen. Etwas, das immer da war, aber lange schwieg. Dann ist Ahidus nicht nur ein Tanz. Dann ist er eine Sprache, in der sich eine Seele erinnert, die viele trägt - und die doch nur im Kreis ganz werden kann. 

Inmitten dieser lebendigen Überlieferung steht Mustafa - Ingenieur, Brückenbauer, Architekt im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Er ging nach Europa, um zu entwerfen, zu konstruieren, zu erklären. Aber er kehrte zurück, nicht aus Scheitern, sondern aus Erkenntnis: Dass zwischen all den sichtbaren Brücken eine unsichtbare fehlt - jene, die zur eigenen Herkunft führt.

In jenem Moment war Mustafa nicht länger nur ein Einzelner unter Vielen. Er war verschmolzen mit dem Rhythmus, eins geworden mit dem Klang des Bendir, durchdrungen von einer Musik, die nicht nur hörbar, sondern erinnerbar war - wie ein Echo, das aus einer kollektiven Seele emporschwebt. Eine Erinnerung, alt und tief, trug sich durch ihn hindurch. Als wäre er selbst der Träger eines kulturellen Pulses geworden.

Als der Tanz endete, trat Stille ein. Eine dichte, fast feierliche Ruhe. Niemand applaudierte. Nicht aus Desinteresse - sondern aus einer intuitiven Ehrfurcht. Denn was geschehen war, ließ sich nicht beklatschen. Es wollte nicht gefeiert, sondern vernommen werden. Wie eine Botschaft, die aus den Bergen herabgestiegen war - nicht in Worten, sondern im Körper. Etwas, das nicht erzählt werden kann, sondern nur gelebt.

Aus dem halbdunkel trat Moha hervor - der alte Meister des Ahidus, Träger einer Weisheit, die nicht in Worten wohnt, sondern im Klang und im Takt des Herzens. Er sprach nicht. Seine Schritte waren langsam, von stiller Würde getragen, als folgten sie einem inneren Rhythmus, der älter war als der Augenblick.

Schweigend trat er an Mustafa heran und reichte ihm den Bendir - jene schlichte Rahmentrommel, Ursprung und Atem dieses Tanzes. Nicht wie ein Lehrer, der ein Instrument übergibt, sondern wie ein Hüter der Überlieferung, der erkennt, dass der Augenblick gekommen ist, das Letzte weiterzureichen - nicht als Ende, sondern als Beginn einer neuen Linie. Und nach einem langen Schweigen, das sich ausdehnte wie ein stilles Tal im Licht der Dämmerung, sprach er: „Du bist nicht mehr in diesem Tanz… Du bist aus seinem Gewebe gemacht.

Der Ort, an dem sich diese Szene abspielte, war denkbar unpassend für eine solche Begegnung: Ein nüchterner Vorlesungssaal in Deutschland. Glaswände, klare Strukturen, akademische Distanz. Ein Ort, der auf Fakten wartete, auf Zahlen, Statik, Berechnung.

Doch Mustafa betrat diesen Raum nicht wie ein Ingenieur. Er kam, als würde er in einen Spiegel treten - bereit, etwas zu zeigen, das sich der gewöhnlichen Wahrnehmung entzieht. Seine Tasche war leicht. Kein Laptop. Keine Unterlagen. Nur ein Bendir, ein Stein vom Hang des Oum Errabi‘ - und ein kleiner Beutel Erde aus Tassaout. Nichts Besonderes - und doch für ihn schwer von Bedeutung. Erde, die nach Erinnerung roch… Nach Herz.

Vor der weißen Projektionswand zeigte er zunächst Brücken, Bögen, technische Zeichnungen - präzise, rational, eindrucksvoll. Und dann… ein Bild von einem Ahidus-Kreis. Er sagte nichts. Ließ das Bild wirken, wie ein Gedicht, das noch nicht ausgesprochen ist. Schließlich sprach er leise - fast, als spräche er zu sich selbst: „Auch das ist Architektur. Aber eine ohne Lineal. Eine Architektur, die nicht aus Stahl besteht - sondern aus Herzschlag. Hier braucht es keine gemeinsame Sprache. Nur ein gemeinsames Herz. In diesem Kreis erhebt sich niemand. Alle sind Teil - ohne Anfang, ohne Ende.“

Er schwieg erneut. Doch sein Schweigen war kein Mangel an Worten, sondern ein Raum für Erkenntnis. Dann fuhr er fort - leise, wie ein kaum hörbarer Regen: „Ahidus ist kein folkloristischer Tanz. Er ist eine Form des Daseins. Kein Ausdruck durch Worte - sondern durch Teilhabe. Man gehört dazu, nicht weil man am Rand steht, sondern weil der Kreis einen ausbalanciert. Jeder Schritt ist ein Zeugnis. Jede Linie ein Bekenntnis: Wir sind nicht vollständig, wenn wir allein sind. Und Schönheit - wie ein Berg - zeigt sich erst, wenn man ihr als Gefährte begegnet. Nicht als Zuschauer.“

Und wieder klatschte niemand. Nicht aus Zurückhaltung - sondern aus Achtung. Als fürchteten selbst die Hände, das Echo zwischen Worten und Seelen zu stören.

Einige Tage später kehrte Mustafa zurück. Doch nicht nach Khénifra, seiner Heimatstadt. Er ging weiter - hinauf nach Tassaout [Nebenfluss des Flusses Oum Errabi‘]. Dorthin, wo keine Landkarte den Weg vorgibt, sondern nur die feinen Verästelungen der Erinnerung.

Moha war dort. Der alte Meister lag auf einem schlichten Holzlager. Sein Körper wirkte klein geworden, fast durchsichtig - als habe sich alles Leben in seine Stimme zurückgezogen. Mustafa sprach nicht. Er setzte sich zu seinen Füßen. Sie sahen einander an. Und Moha reichte ihm den Bendir - nicht als Prüfung, sondern wie man jemandem einen Schlüssel übergibt, der das Haus längst kennt. Er sagte: „Ahidus ist kein Erbe… Ahidus ist ein Versprechen.“

In jener Nacht führte Mustafa den Tanz an. Kein Fest. Keine Bühne. Keine Zuschauer. Der Abend war still. Der Mond blass. Die Erde - wie bereit für eine zarte Erschütterung. Mustafa tanzte, als würde er Verse in die Luft schreiben. Schritt für Schritt. Nicht aus Ehrgeiz - sondern aus Wahrhaftigkeit. Der Tanz war wie ein Seufzer. Und gerade in seiner Schlichtheit mächtiger als jedes gesprochene Wort.

Heute, wenn man ihn fragt: „Bist du zurückgekehrt, weil du dich in Europa verloren hast?“, lächelt er. Streicht mit der Hand über den Bendir - wie man einem Kind zärtlich über die Stirn fährt - und sagt: „Nein. Ich bin zurückgekehrt, weil ich dort etwas gefunden habe, von dem ich nicht wusste, dass es mir fehlte.“ Und dann fügt er hinzu: „Es gibt viele Brücken, die Ufer miteinander verbinden, aber die schönsten… sind die, die dich zu dir selbst zurückführen.