Zwischen Heimat und Fremde - Die bewusste Fremdheit
Der vorliegende Beitrag ist das Ergebnis eines längeren Dialogs zwischen marokko.com und dem Schriftsteller Idriss Al-Jay. Was als Austausch über Begriffe wie Heimat, Exil und Identität begann, entwickelte sich zu einem vielschichtigen Gespräch über das Menschsein im Spannungsfeld der Migration. Die einzelnen Überschriften des Textes spiegeln die Fragen wider, die diesem Dialog zugrunde lagen - Fragen, auf die Al-Jay nicht mit fertigen Antworten reagierte, sondern mit Gedanken, die sich im Gespräch entfaltet haben.

Al-Jay nähert sich dem Thema Migration nicht als soziologischer Beobachter, sondern als Mensch, der die Fremde gelebt, durchlitten und durchdacht hat. Seine Worte sind keine Theorie über das Exil, sondern eine leise Selbstbefragung. In seinem Denken wird Fremdheit zu einem inneren Zustand - zu einer Bewegung des Bewusstseins, in der sich Identität immer wieder neu zusammensetzt.
Für ihn ist Heimat kein fester Punkt auf der Landkarte, kein Besitz, den man verliert oder verteidigt. Heimat ist Haltung, Erinnerung, gelebte Ethik - eine Art, in der Welt zu sein. Damit widerspricht er der verbreiteten Vorstellung, Zugehörigkeit müsse an Raum oder Grenze gebunden sein. In seinen Worten klingt jene spirituelle Tiefe an, die den großen Sufi-Traditionen Nordafrikas eigen ist: Wer sich selbst erkennt, verliert sich weder in der Fremde noch im Eigenen.
Diese Veröffentlichung ist zugleich eine Einladung, Migration als menschliche Erfahrung zu begreifen - jenseits von Politik oder Statistik. Wenn Al-Jay sagt: „Jeder Migrant ist ein Botschafter“, dann spricht er nicht über diplomatische Rollen, sondern über moralische Verantwortung. Der Migrant wird zum Träger seiner Kultur, zum stillen Zeugen von Würde und Austausch.
Der Beitrag, entstanden im offenen Gespräch, ist weniger ein Essay als ein geistiges Mosaik. Er verbindet persönliche Erfahrung mit philosophischer Klarheit und poetischem Ton - und erinnert daran, dass die Fremde, wenn man ihr mit Bewusstsein begegnet, kein Ort des Verlusts ist, sondern ein Raum der Wandlung, in dem der Mensch sich selbst neu erkennt. Al-Jays Worte fügen sich zu einem stillen Strom, der den Leser von der Oberfläche der Begriffe in die Tiefe der Empfindung führt - dorthin, wo Fremdheit zur inneren Bewegung wird und Erkenntnis aus Erinnerung wächst.
Was bedeutet es, fern der Heimat zu leben, ohne innerlich entwurzelt zu sein? Diese Frage begleitet mich seit vielen Jahren - nicht als intellektuelle Übung, sondern als Erfahrung, die sich in meinem Leben eingeschrieben hat. Migration ist für mich kein bloßer Ortswechsel, sondern ein Zustand des Bewusstseins, eine Haltung des Geistes, die verlangt, in der Bewegung die eigene Mitte zu bewahren.
Wir leben in einer Epoche, in der Grenzen sich öffnen, in der Kulturen einander durchdringen und die Entfernungen kleiner werden. Und doch, je näher die Welt zusammenrückt, desto spürbarer wird das Gefühl der inneren Ferne. Das Exil, einst ein Schicksal der Wenigen, ist heute eine kollektive Erfahrung geworden - eine Prüfung der Seele, die uns lehrt, wer wir sind, wenn wir zwischen Welten stehen.
Zwischen Verwurzelung und Entwurzelung verläuft die feine Linie, auf der wir Migranten uns bewegen. Auf ihr entstehen jene Begriffe, die mein Denken seit Langem prägen: Ghurba - das Gefühl des Fremdseins - und Ightirab - die Entfremdung. Beide gehen weit über die geografische Dimension hinaus; sie gehören zur inneren Topografie des Menschen. Denn Fremdheit ist kein Ort - sie ist eine seelische Landschaft, die man durchschreiten muss, um sich selbst zu erkennen.
Die drei Wege der Migration
In meinen Begegnungen mit Menschen der Migration habe ich drei Haltungen beobachtet - drei Wege, auf denen sich unser Verhältnis zur Herkunft formt.
Die erste Haltung ist die der Enttäuschten, jener, die aus Zorn, Schmerz oder Ernüchterung ihr Land verlassen. Sie kehren der Heimat den Rücken, als wollten sie sich von ihr befreien. Doch gerade sie verspüren mit den Jahren die tiefste Sehnsucht nach Rückkehr, weil kein Bruch das Band der Erinnerung wirklich zu trennen vermag.
Die zweite Haltung ist die derer, die gehen mussten. Ihre Erfahrung ist gezeichnet von Verlust, von einem Entschluss, der nicht der ihre war.
Und schließlich gibt es die, zu denen ich mich selbst zähle - die Bewussten. Wir verlassen die Heimat nicht aus Ablehnung, sondern aus Entfaltung. Wir gehen, um zu lernen, zu wirken, zu wachsen. Für uns ist Migration kein Bruch, sondern eine Bewegung des Lebens. Unsere Wurzeln tragen uns, auch wenn der Boden sich verändert.
Ich trage Fès in mir, ich trage Marokko in mir. Heimat ist nicht der Boden unter unseren Füßen, sondern die Haltung, mit der wir durchs Leben gehen. Wer seine innere Heimat findet, verliert sich in der Fremde nicht - er erkennt sich in ihr.
Der Migrant als Botschafter
Jeder Migrant ist ein Botschafter - nicht im diplomatischen, sondern im moralischen Sinn. Wir alle, die wir Grenzen überschreiten, tragen Spuren des Landes in uns, das uns geformt hat: in unserer Sprache, in unseren Gesten, in der Art, wie wir anderen begegnen. Unser wahres Zeugnis besteht nicht in Worten oder Titeln, sondern in Haltung - in der Würde, der Aufrichtigkeit und der Güte, mit der wir dem Anderen begegnen.
Ich erinnere mich an einen türkischen Arbeiter in Berlin, einen schlichten Mann mit stiller Freundlichkeit. Er sprach kaum Deutsch, aber die Menschen verstanden ihn dennoch - weil er die universelle Sprache des Herzens sprach. Wenn er half, ohne um Hilfe gebeten zu werden, wenn er lächelte, wo andere schweigen, lehrte er, ohne zu predigen. Er war, ohne es zu wissen, ein Lehrer der Menschlichkeit. Diese Begegnung lehrte mich, dass Integration nicht im Wort beginnt, sondern in der Geste, nicht in Grammatik, sondern in Güte. Sprache kann Brücken bauen, aber nur Werte geben ihnen Bestand.
Die Gefahr des Vergleichs
In der Fremde habe ich gelernt, wie verführerisch und trügerisch Vergleiche sein können. Viele von uns idealisieren das Gastland und verwerfen zugleich die Heimat - als ließe sich Fortschritt nach einer einheitlichen Skala messen. Doch Gesellschaften bewegen sich auf verschiedenen Ebenen des Bewusstseins, jede geprägt von ihrer Geschichte, ihrem Schmerz, ihren Möglichkeiten. Kein Maßstab taugt für beide. Wer wirklich verstehen will, darf nicht urteilen, sondern muss zuhören - mit Respekt, mit Nüchternheit, mit Demut. Denn die Unterschiede zwischen den Welten sind kein Zeichen von Rang, sondern ein Spiegel ihrer Vielfalt.
Haneen - die schöpferische Sehnsucht
In mir lebt ein Wort, das viele nur mit Wehmut verbinden: Haneen. Doch Haneen ist keine Schwäche, kein Rückblick in Trauer, sondern die Lebenskraft der Erinnerung. Sie ist die leise Sehnsucht nach einem lebendigen Gestern - nach der Wärme der Kindheit, dem Lachen der Freunde, dem Duft der vertrauten Straßen. Sie ist das Licht, das aus der Vergangenheit in die Gegenwart fällt und uns daran erinnert, wer wir sind. Nur wer sich erinnert, vermag weiterzugehen. Denn Sehnsucht ist kein Schmerz, sondern ein Feuer, das das Herz wachhält, wenn die Welt erkaltet.
Kunst, Sprache und die neue Fremdheit
Kunst ist das unsichtbare Band, das die Zerstreuten verbindet. Musik, Theater, Film - sie schaffen jene Räume, in denen sich Menschen jenseits von Sprache und Ort wiedererkennen. Ein arabischer Filmabend in einer europäischen Stadt kann die Stimmen der Großmütter zurückbringen, den Klang der Sprache, die Wärme eines gemeinsamen Gedächtnisses. Kunst heilt, indem sie das Getrennte erinnert.
Auch Sprache ist mehr als ein Werkzeug - sie ist ein Raum des Verstehens. Wir Marokkaner sagten einst: „Die Sprache des Anderen müssen wir beherrschen.“ Nicht aus Unterwerfung, sondern aus dem Wunsch, ihn zu verstehen. So entstand eine Generation, die auf Arabisch und Französisch zugleich dachte - Brückenbauer zwischen Welten.
Heute jedoch begegnet uns eine neue Art von Fremdheit - die digitale. Ich sehe mit Sorge, wie Technologie und künstliche Intelligenz den Menschen von sich selbst entfernen. Die Maschine kann vieles nachahmen, aber nicht fühlen. Wenn wir beginnen, unser Mitgefühl an Algorithmen zu delegieren, verlieren wir den inneren Sinn des Menschseins. Der Mensch, der die Maschine erschuf, darf nicht ihr Gefangener werden.