Die Kunst der Rückkehr: Über die Wiedergewinnung innerer Orientierung
In seinem präzise beobachtenden Essay lädt Mounir Lougmani dazu ein, jene stillen Momente ernst zu nehmen, in denen das äußere Leben das innere Maß überholt. Mit feiner Sprache und ruhiger Gedankentiefe erkundet er die subtile Verschiebung zwischen Funktionieren und Fühlen - und zeigt, wie aus Aufmerksamkeit und Selbstklärung ein neues, tragfähiges Gleichgewicht entsteht. Ein Text, der nicht belehrt, sondern begleitet: eine leise Kunst der Rückkehr zu sich selbst.
Manchmal beginnt es mit einer kaum wahrnehmbaren Verschiebung: Ein Gefühl, das den vertrauten Rhythmus leicht aus dem Gleichgewicht bringt. Während das äußere Leben ununterbrochen weiterzieht, hält das Innere für einen Moment inne - als müsste es neu sortieren, bevor es weitergeht.
In dieser feinen Verzögerung entsteht ein kleiner Abstand zwischen dem, was wir leben, und dem, was wir von uns erwarten. Der alte Gedanke al-Farabis scheint in solchen Momenten überraschend gegenwärtig: „Das Glück ist das Ziel, dem der Mensch zustrebt; doch er erreicht es erst, wenn er den Weg dorthin erkennt.“ (aus Tahsil as-Saada - Erwerb des Glücks) Vielleicht spüren wir diese Unstimmigkeit nur deshalb, weil etwas in uns präziser wissen möchte, wohin wir unterwegs sind.
Wenn sich diese innere Klarheit vorübergehend zurückzieht, verändert sich auch der Alltag. Die Aufgaben gelingen, doch sie hinterlassen kaum noch Eingang in unser Empfinden. Der Tag klingt nicht nach; er bleibt an der Oberfläche. Und während wir funktionieren, löst sich die Verbindung zwischen Handeln und innerem Echo unmerklich. Mitunter führt dieses leise Nachlassen der Resonanz zu einem Gefühl, sich im Kreis zu bewegen. Wir schreiten voran, ohne wirklich voranzukommen, als folgten wir einem Weg, der seine Richtung verloren hat. Doch gerade in dieser Wiederholung liegt die Möglichkeit, einen Moment lang anzuhalten. Ein stiller Halt, der weder Flucht noch Bruch ist, sondern eine Verlangsamung, die erlaubt, das eigene Maß neu zu bestimmen. Ibn Sina fasste diese notwendige Rückwendung einmal so: „Die Seele erfasst ihr eigenes Wesen durch sich selbst.“ (aus Kitab an-Najat - Kapitel über die Seele) In dieser Rückkehr liegt kein Rückzug, sondern die Sammlung für den nächsten Schritt.
Was dann geschieht, folgt keinem dramatischen Muster. Die innere Ordnung kehrt selten in großen Gesten zurück; sie wächst vielmehr aus kleinen Akten der Aufmerksamkeit. Ein klarer Gedanke, ein ruhiger Atemzug, eine aufrichtige Frage an sich selbst - oft genügt dies, um das Verborgene neu auszurichten. Das Leben wird dadurch nicht mühelos, aber deutlicher. Das Schwere bleibt bestehen, doch es verliert seine Undurchsichtigkeit. Al-Ghazali erinnerte einst daran, dass „Handeln ohne Einsicht erschöpft den Menschen; doch Einsicht ohne Aufrichtigkeit verfehlt ihr Ziel. Erst dort, wo Klarheit und Wahrhaftigkeit zusammenfinden, beginnt der Weg wirklich zu tragen.“ Einsicht entsteht dort, wo wir bereit sind, uns selbst ohne Umwege zu begegnen.
So wird die Rückkehr am Ende kein abruptes Ereignis, sondern eine leise, fast beiläufige Bewegung. Sie wächst im Hintergrund, bis sie sich langsam im Vordergrund bemerkbar macht: in einer neuen Ruhe, in klareren Prioritäten, in einer Haltung, die wieder mit dem eigenen Wesen übereinstimmt. Und wenn dieses Gleichgewicht sich wiederfinden darf, entfaltet das Leben einen Klang, der einfacher, tragender und zutiefst vertraut wirkt - als hätte man den inneren Ton, den man zwischenzeitlich verloren glaubte, wiederhörbar gemacht.
Jalal ad-Din hätte diesen Gedanken vielleicht so formuliert: Trenne dich nicht von deinem eigenen Inneren, denn das, was du suchst, geht dir bereits entgegen. Ein Weg, der sich nicht vollenden lässt, ist kein Irrweg, sondern eine Rückkehr zu deiner Quelle. In einem Moment der Stille hörst du den verborgenen Ruf - die Stimme, die seit jeher in dir wohnt und dich nicht hinausführt, sondern heimwärts.