Werde, der du bist - Ein Manifest der inneren Unabhängigkeit
Ethische Haltung kann nicht auferlegt, sondern muss aus der Tiefe des eigenen Wesens erwachsen. Menschen von innerer Stärke streben nicht nach Sicherheit, sondern nach Wachstum - selbst wenn es Schmerz bedeutet. Sie wählen ein Leben voller Wagnisse, weil sie spüren: Die Welt ist weit, voller Möglichkeiten - und ein starker Geist will sie nicht meiden, sondern erfahren.
So ist jede Ideologie der Opferhaltung, die Enthaltsamkeit, falsche Demut und Schuldgefühl predigt, Gift für jede gesunde Seele. Denn ein Leben, das diesen Namen verdient, ist ein ständiger Wandel, ein fortwährender Aufbruch, frei von Reue und Selbstmitleid, ein Lobgesang auf Wagnis und Abenteuer. Ein Mensch, der der Gefahr ins Auge blickt und sich ihr entgegenstellt, lebt aus dem Herzen. Er weicht nicht zurück, wagt das Unmögliche, trotzt ihm, macht es wahr - selbst wenn er daran zerbricht oder sein Leben lässt. Solch ein Mensch rechnet nicht nach Zeit, nicht nach Mühe. Er spekuliert nicht über das Leben. Er geht es an mit einem Lächeln - in stiller Zustimmung. Und sollte es sich als Leidensweg erweisen, so nimmt er ihn an und wird zum Ruderer im Strom der Tage.
Der Einzelne und die Masse
Ein solcher Mensch hält sich von den Massen fern, von der Menge und dem Lärm. Er wandelt allein. Das ist sein Schicksal. Die Einsamkeit desjenigen, der sich selbst entgegengeht. Denn er weiß: Die Massen scheuen jede Herausforderung, jeden Bruch mit der Gewohnheit, jede Gefahr, alles, was ihre trügerische Sicherheit erschüttert. Er weiß, dass die Menge sich weigert, die Wahrheit zu erkennen oder gar an sie zu glauben.
Im Gegenteil: Die Menge kehrt den unbequemen Wahrheiten den Rücken, sofern sie nicht in ihr Weltbild passen. Sie erhebt Illusionen zu Götzenbildern, betet das Falsche an, pflegt den Kult des Irrtums - so sehr, dass derjenige, der diese Illusionen aufrechterhält, ihr Gebieter wird. Doch wer sie zerstören will, wer den Schleier der Lüge lüftet, wird unweigerlich ihr Feind - und somit ihr Opfer. Denn es gibt keine grausamere Rache als jene der Masse gegen den, der ausschert.
Die Würde des Abseitsstehenden
Dann erhebt sich der öffentliche Zorn, und der Mensch, der sich von den Konventionen der Gesellschaft und ihren Menschenschwärmen fernhält, muss büßen - dafür, dass er gewagt hat, einen Vertrag zu verweigern, den alle unterzeichnet haben, ohne ihn je gelesen oder überdacht zu haben, im blinden Vertrauen darauf, dass es richtig sein müsse, weil es alle so halten. Die Gesellschaft schlägt zurück. Sie diktiert. Sie richtet. Sie fällt ihr Urteil. Der Einzelne, der sich abseits hält, zahlt einen hohen Preis für sein »Nein«.
In diesem Sinne kann der Verfall und die Erosion dieser Welt - mit all ihren Gesellschaften, so ähnlich sie sich auch sind in ihrer Verschiedenheit - eine gewisse Faszination ausüben, sofern man sich innerlich gelöst hat von aller Sentimentalität gegenüber einer im Untergang begriffenen Zivilisation. Aus dieser Haltung heraus muss man diese Welt stets mit Distanz betrachten, im Wissen, dass man ihr nicht angehört und auch keinen Platz darin beanspruchen will.
Welt im Verfall - und warum das befreiend ist
Diese Welt darf uns nie vereinnahmen, denn wir gehören ihr nicht. Wir dürfen uns ihr nicht hingeben, nicht ihren brüchigen Strukturen. Diese Welt darf uns nicht formen, denn wir dürfen uns keinem Kollektiv, keinem Konzern, keiner Körperschaft, keiner Ethnie, keiner Regierung, keiner Partei, keiner Religion, keinem Klub, keiner Nachbarschaft angleichen. Wir dürfen keine angeborene oder vorgeprägte Neigung zu solchen Zusammenschlüssen haben - zu diesen ideologischen und demagogischen Übereinkünften, die stets das Individuum auslöschen und es in die glühende Lava jenes Gemeinwesens zwingen wollen, das sich Gesellschaft oder Gemeinschaft nennt.
Solche Zusammenschlüsse, gegründet auf moralischem Konsens, geraten unweigerlich zum Mahlwerk, das alle zerdrückt, die sich ihm entziehen. Wer aus der Reihe tanzt, soll zurechtgewiesen werden. Wer den vorgezeichneten Bahnen der Gesellschaft nicht folgt, soll bestraft werden - um ein für alle Mal zu lernen, dass man sich in dieser Welt nicht ungestraft einen eigenen Weg bahnen darf. Das Diktum ist uralt, so alt wie die Menschheit selbst: Entweder du bist mit uns - oder gegen uns. Und wer gegen uns ist, den müssen wir vernichten. Denn allein dein Widerstand, dein Anderssein gefährdet das ganze Gebäude, streut Sand in das so reibungslos laufende Getriebe - das wie eine Dampfwalze alles einebnet, was aufrecht steht.
Darum gilt es auf dem Weg des Lebens zu unterscheiden zwischen dem Wesentlichen und dem Belanglosen - und die Kämpfe mit Bedacht zu wählen, den Nichtigkeiten und Zerstreuungen den Rücken zu kehren. Es ist entscheidend, sich dem allgemeinen Stumpfsinn entgegenzustellen, der uns ins Elend zieht, der uns mit Händen und Zähnen in eine Form zwingen will - ein Raster des Denkens, des Seins, des Handelns. Dieses Raster gebietet: Vergiss das Wesentliche, zerstreue dich im Belanglosen. Verbrauche deine Energie damit, die Zeit zu töten, deine Seele zu verzehren - bis du vergisst, dass du eine Seele hast, die genährt, gepflegt, gestärkt werden will, damit du in deiner eigenen Wahrheit wurzeln kannst - einzig bezogen auf das, was du bist.
Denn dies ist das einzige Maß, an dem wir uns Tag für Tag messen sollten - und das wir dazu nutzen, zu wachsen. Dies setzt eine tiefgreifende, ungeschönte Selbstbefragung voraus. Eine schonungslose Auseinandersetzung mit der Frage, wer wir werden wollen und was wir tun müssen, um jenes Ideal unserer selbst zu erreichen.
Der Blick nach innen
Denn viele von uns glauben zu wachsen - dabei schieben sie nur ihre Vorurteile hin und her. Daher all diese Nebel, dieser trübe Schleier, der die Sicht verwehrt. Der kranke Zustand der heutigen Welt ist nichts anderes als ein direktes Produkt unseres Denkens und Glaubens. Wer die Welt wandeln will, muss zuallererst den Irrglauben in seinem Denken durchbrechen. Er muss mit der Vergangenheit abrechnen, in der Gegenwart handeln, sich der lähmenden Angst entledigen, die sein Bewusstsein gefangen hält. Er muss lernen, all jene zu akzeptieren, die anders sein wollen - die den Rand gewählt haben, weil sie wissen, dass die besten Wege jene sind, die niemand geht.
So wie der Dichter, der im Blute weiß, dass er die Sprache - und damit die Gesellschaft - reinigen muss vom Elend des Alltags, indem er Pausen schafft zwischen Vokalen und Konsonanten, zwischen Traum und Hoffnung, diese Wirklichkeit werden zu lassen, ohne ihr die Magie des Traums zu rauben. So wie jener, der die Pose des Politikers ablehnt - des Spalters, der Menschen in Werkzeuge und Feinde unterteilt -, muss derjenige, der wahrhaft ein Individuum sein will, bereit sein, aller Feind zu werden - aber nie Werkzeug von irgendjemandem.
Über Abdelhak Najib*
Übersetzung aus dem Französischen