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Die versteckte Welt der Medina oder Zwischen Tradition und Lebensmut

 

Leseprobe aus "Le printemps des feuilles qui tombent"

Mitten im Winter trägt das Meer Sommerdüfte herbei. Man hört es genau dort, hinter den alten zerfallenen Häusern, wie ein Stöhnen, das droht, die ganze Stadt in eine Atmosphäre des Weltuntergangs zu stürzen. Grautöne auf einem braunen Hintergrund, wenn die Sonne sich über dem Himmel von Casablanca verweigert.

 

Der Ozean auf der Seite der großen Moschee sagt viel über den Puls der Stadt aus... 40 Grad Celsius und eine hohe Luftfeuchtigkeit, die durch die Kleidung der Menschen eindringt und Ihre Knochen angreift...

 

Kurze Zusammenfassung:

Der Roman handelt von zwei jungen Freunden, SiMohamed und Khalid. SiMohamed, ein Fischverkäufer mit zahlreichen Diplomen, verbringt seine Tage damit, hinter der großen Moschee Hassan II. zu schwimmen, in der Hoffnung, an einem Wettbewerb teilzunehmen, der ihm ein Einreiseticket nach Spanien verschaffen könnte. Khalid hingegen ist ein überzeugter Revolutionär, der entschlossen ist, die Welt zu verändern. Jeder von ihnen hat seinen eigenen Traum und seine eigenen Enttäuschungen. Die Ereignisse nehmen eine rasante Wendung und münden in einer Anklage gegen die politischen Mächte und dunklen Ideologien....

   

Eins der Tore zur Altstadt von Casablanca, Foto: Alice Andreea Georgesco auf unsplash.comNachts ist die Altstadt voll seltsamer Geräusche. Man ist überzeugt, dass sie zu einem alten Wrack eines gestrandeten Schiffes geworden ist, das nicht weit von den Stadtmauern entfernt auf einer Sandbank liegt. Ein altes Schiff, dessen zentrale Membran unter den heimtückischen Schlägen erschöpfter und am Ende ihrer Kraft stehender Wellen ächzt. Inmitten dieser Atmosphäre singt kein Vogel bei Tagesanbruch. In der Luft liegt der Geruch eines sich entwickelnden Verbrechens.

Bald bricht der Tag an. Die Stadt, wie ein Haufen Knochen und trockener Haut, treibt in dunkle Gassen und veraltete Cafés. Die Gläubigen folgen dem täglichen Ritual. Mit nur einem bekannten Ziel. Geradeaus gehen, einen Stuhl in einem heruntergekommenen Lokal finden, sich hinzusetzen und einen fragwürdigen Kaffee bestellen. Danach ununterbrochen reden und sich die Stimme heiser schreien. Man könnte sie für Marathonläufer des Wortes halten. Ein sinnloser, führerloser Wortdurchfall. Es ist ein tiefsitzendes Bedürfnis, die Zeit mit Worten zu füllen, selbst wenn man dabei tot umfällt.

Eine andere Menschengruppe beginnt den Tag mit einer frommen Antwort auf den Ruf des Muezzins in der Morgendämmerung. Eine Pflicht muss erfüllt, eine Aufgabe erledigt, eine Morgenschicht absolviert werden, um sich ein Fünkchen guten Gewissens zu erkaufen, bevor man sich allen illegalen Machenschaften hingibt. Es ist immer gut, Gott auf seiner Seite zu haben, bevor man ein Verbrechen begeht. Man weiß ja nie. Und es ist noch besser, wenn das Gebet in der großen Moschee stattfindet, vom Rauschen der Wellen begleitet. Der Prunk des Ortes verleiht diesen unzulässigen Einleitungen, die auf das Zusammentreffen zwischen den Betenden und dem Herrn folgen, mehr Heiligkeit und Prestige. Ein fünfminütiger Besuch in diesem hochheiligen Ort, Uhr im Auge behalten, dient als moralische Bürgschaft für alle Gauner in der Gegend. Schließlich, was kann einem Mann passieren, der seinen Tribut gegen die Kühle des Marmors bezahlt hat und sich dann kopfüber in die Gassen der Stadt stürzt, um die einen zu dezimieren und das Blut der anderen zu saugen? Die Versicherung der Vergebung ist im Voraus bezahlt. Das Verbrechen ist dann nur noch eine Formalität.

Andere gläubige Seelen aus der Medina versammeln sich vor Morgengrauen in dem, was zu Zeiten der französischen Kolonisation ein alter Alkohollager war. Es ist eine Art brüchige und staubbedeckte Scheune. Aber sie hat den Vorteil, mitten im alten Viertel zu liegen. Selbst um seine Gottheit zu begegnen, ist es immer bequemer und praktischer, sich einen Ort ganz in der Nähe zu suchen. Kein Bedarf, so viele Gassen zu durchqueren, um sich auf den kalten, feuchten Boden der großen Moschee zu setzen. Ist Gott nicht überall? Selbst ein Abstellraum kann als großer Tempel dienen, um seine Göttlichkeit zu verehren.

Um diesen Gebetsraum zu erreichen, durchqueren wir den Fischmarkt. Wir folgen einer schlammigen Gasse direkt vor einem alten berühmten Bordell in der Medina, bevor wir abrupt abbiegen und dieses gefährliche Gebäude betreten, das an einigen Stellen zusammenbricht und dabei sanftes Morgenlicht hereinlässt, das wie Strahlen aus dem Himmel auf die zerbrochene Fliese des Bodens fällt. Drinnen taucht eine alte Halogenlampe mit gelbem Licht den Ort in düsteres Ambiente. Die Korbteppiche verbergen den Boden und werfen Streifen auf die Wände wie Gefängnisgitter. Es sind mindestens zweihundert Menschen hier. Nur Männer. Die Begegnung mit dem Schöpfer an solchen Orten ist wohl den Männern vorbehalten. Am Ende der Scheune sitzt die abgemagerte Silhouette dessen, der sich selbst zum Imam ernannt hat, auf einem zerrissenen Kissen... Die Versammlung besteht aus jungen Leuten auf dem Weg zu mühsamen Jobs.

Diese morgendliche Sitzung erfrischt die Nerven. Sie gibt denen Mut, die ihre armseligen Leben verachten. Ein paar alte Männer in abgenutzten Djellabas, ein zurückkehrender Beamter, ein ehemaliger Polizist, zwei Matrosen, die zum Hafen gehen. Der Rest sind Rückfalltäter in der Bewährungszeit, bereit, sich zu „reinigen“, bevor sie erneut rückfällig werden und für fünf Jahre wegen Vergewaltigung, Diebstahl oder versuchtem Mord verurteilt werden.

Hier in der Medina kennt jeder jeden. Hier in der Moschee gibt es keine Geheimnisse. Und wagen Sie es nicht, das zu verbergen, was das Wesen Ihres Lebens ausmacht. Selbst was Sie essen, wie Sie mit Ihrer Frau schlafen und die Größe Ihres Penis, alles ist allen bekannt. Also kein Grund, sich hier zu verstellen. Man spielt offen und jeder trägt stillschweigend zur Segnung des Tages bei.

Der Imam beginnt seine Sitzung. Das Gesicht ist verschlossen. Auf der Stirn, über einem rasierten Schädel, kann man das berühmte Zeichen des Gebets bewundern, was die Gläubigen als "den Stempel des Glaubens" bezeichnen. Das Siegel, das den Unterschied zwischen einem wahren Diener des Herrn und anderen Muslimen ausmacht. Der Imam hebt seine Hände zur Stirn, als würde er sich eine gelegentliche Dosis Heiligkeit verabreichen. Die tägliche Show kann dann beginnen.

Die erste Sure des Korans wird mit einer schweren Stimme rezitiert. Die Fatiha markiert den Beginn eines riesigen Betrugs unter Heuchlern. Es folgt gymnastische Energie zwischen Verbeugungen, Kniefällen, Unterwerfung vor Gott und seinen Propheten. Am Ende des Gebets erhebt der Imam seine Hände, um im Voraus um Vergebung zu bitten für all das Übel, das in den nächsten vierundzwanzig Stunden begangen wird. Diese Szene atmet Heuchelei. Sie ist frei von Andacht. Die Bewegungen sind mechanisch. Die Männer sind wie Roboter, die für höchstens fünf Minuten aktiviert werden. Sie erledigen eine Aufgabe, bevor sie sich dem grellen Tageslicht stellen, das wie ein Fallbeil auf die Stadt niederprasselt. Ende des Spiels.

Der unheilvolle Zyklus kann wieder aufgenommen werden. Jeder kehrt dann zu seinem gewohnten Gesicht zurück. Das Gesicht von jemandem, der einen Genozid begehen kann, um abends nach Hause zu kommen, erschöpft von so vielen Schlägen, die er verteilt hat. Jeder hat seinen Krieg. Aber hier, im Herzen der Stadt, haben die Schützengräben das Aussehen von offenen Gräbern. Die Männer sind wie Vampire, die bei Tagesanbruch ihre Schlafstätte verlassen, um sie bei Einbruch der Dunkelheit noch erschöpfter als am Vortag wieder aufzusuchen. Hier ist die Hölle, und jeder Moment, der vergeht, ist ein Wunder, nur weiß es keiner.

Simohamed verlässt das Haus genau in dem Moment, in dem die Scheune ihre Scharen von Gläubigen freigibt. Er trifft zwei seiner Matrosenfreunde, die Teil des Gebetszuges sind. Sie machen sich auf den Weg zum Hafen hinab. Die Gassen sind eng. Das Licht ist grau. Der Himmel sehr tief. Eine bedrohliche Wolke beharrt darauf, über der Medina zu schweben wie ein schlechtes Omen. Die Wände lassen Fetzen von Gesprächen zwischen Ehepartnern durch, die sich nach einer erfolglosen Nacht streiten. Ein Kind, das sich weigert, für die Schule aufzustehen, schreit seine Wut und sein Unglück heraus. Ein junges Mädchen, das am frühen Morgen das Bett ihres Liebhabers verlässt, fragt sich, ob die Straße Menschenleer ist, um sich unbemerkt aus dem Haus herauszuschleichen. Die Medina ist ein morgendliches Konzert, das hinter den dünnen Wänden der Häuser, die zu zerfallen drohen, gespielt wird. Jeder trägt seine ängstliche Melodie dazu bei.

Ein Tag im Leben der Familie Simohamed

Von mittlerer Statur trägt Simohamed den ganzen Winter über nie seine Matrosenmütze ab. Sie verbirgt feines Haar und eine breite Stirn. Eine verwaschene Jeans, schwarze Laufschuhe und eine Leinwandjacke verleihen seinem Gang mehr Unbeschwertheit und einen Hauch von entschlossener Steifheit. Wenn er geht, setzt Simohamed seinen rechten Fuß weniger fest auf als den linken, was ihm ein leicht tänzelndes Aussehen verleiht. In seiner hinteren Hosentasche steckt immer sein Fischermesser als Arbeitswerkzeug.

Der junge Mann, der gerade seine vierundzwanzigsten Lebensjahre abgeschlossen hat, geht seit über sechs Monaten zu den Docks. Dort kauft er ein paar Kisten Sardinen, einige Kilogramm Garnelen und Tintenfische, um sie vor acht Uhr morgens zu verkaufen. Nach drei Stunden Arbeit, mit seinem Geld in der Tasche, kehrt er nach Hause zurück, um sein zweites Frühstück zu sich zu nehmen. Ein Ritual, das er mit seiner Mutter, Halima, teilt.

"Also, wie war dein Morgen, mein Sohn?", ruft die Mutter aus ihrer kleinen Küche, während sie den traditionellen grünen Tee mit Minze [Atay] zubereitet.

"Wie immer", antwortet Simohamed, als er seine Mütze abnimmt. "Schnell eingekauft, schnell verkauft. Das ist das Geschäft, meine Mutter. Das ist das Geschäft. Du weißt, wie es ist."

Halima nickt zustimmend, bevor sie ihn bittet, seinen Bruder und seine Schwester zu wecken, um sie aufzufordern zum Essen zu kommen. Sie wendet sich kurz um und wirft einen Blick auf das neben der Tür hängende Bild, das sie in ihren Fünfzigern zeigt. Sie sieht etwas jünger aus.

Simohamed durchquert einen kleinen Flur und vermeidet es, eine Kommode zu berühren, auf der Fotos seines Vaters aus Kriegszeiten ausgestellt sind. Man sieht den Vater in Uniform, als jungen glücklichen Soldaten, der seinem Land dient. Dann mit zwei anderen Soldaten, alle jung und sorglos wie diejenigen, die noch nicht wissen, dass die Armee die Männer zermürbt. Weitere Fotos des Vaters im Sand der Sahara, sein Gewehr neben ihm, ein breites Lächeln auf seinem Gesicht als junger Rekrut, und dann andere Fotos von Soldaten in der Garnison, Szenen von ausgelassenen Festen... die ganze Palette einer alten Familienerinnerung, präsentiert in diesem Flur wie ein Kondensat vergangenen Lebens. Simohamed vermeidet es, in diesem Flur zu verweilen, um die Überreste eines anderen Zeitalters nicht sehen zu müssen. Der Krieg hat unauslöschliche Spuren in der Familie hinterlassen. Und er hat am meisten darunter gelitten. Am Ende des Flurs betritt er einen kleinen Raum von zwei mal zwei Metern, in dem zwei Bänke stehen. Saïd, sein sechzehnjähriger kleiner Bruder, schläft immer noch fest. Kenza, die Schwester, ist bereits wach.

"Zwischen ihm und dem Schlaf besteht ein Pakt des Nichtangriffs", ironisiert Kenza, während sie ihr langes schönes Haar, das ihr bis zum Hintern fällt, zusammenbindet. Das Mädchen hat denselben schelmischen Blick wie ihre Mutter, mit einem leichten Hauch von Melancholie.

Saïd, der jüngere Bruder, ist ein Langschläfer. Er verpasst keine Gelegenheit, mehrere Stunden zu schlafen, selbst mitten am Tag. Und nachts benötigt er mindestens zehn Stunden Schlaf, um aus dem Bett zu kommen. Er hat das Gymnasium vor Kurzem verlassen, was ihm die Möglichkeit gibt, stundenlang zu schlummern. Saïd ist auch ein Vielfraß. Obwohl er dünn wie eine Bohnenstange ist, isst er wie vier Männer. Er braucht mindestens eine Teekanne für sich allein und ein ganzes Brot zum Frühstück. Die Mutter stellt daher zwei Teekannen auf den Tisch, eine für sie, Simohamed und Kenza und die andere stark gesüßt für Saïd.

"Steh auf, Saïd. Oder wir werden alles aufessen", sagt die Mutter mit einem Augenzwinkern zu ihrer Tochter.

"Aber nein, ihr esst doch nie. Ihr denkt zu viel nach. Ihr verdirbt euch den Appetit selbst. Ich hingegen weiß, was ich will. Also esse ich und mache mir keine Sorgen", ruft Saïd aus seinem Bett heraus, bevor er aufspringt, um auf einen Stuhl am Tisch Platz zu nehmen. "Ah! Das Brot sieht gut aus. Gib mir etwas Olivenöl, Mama, und lass mich dir sagen, ohne dich sind wir alle verloren. Ich bin jedenfalls ohne dich verloren, Mutter."

"Solange es Brot gibt, bist du ein glücklicher Mann. Ich hingegen muss dein Brot holen gehen, Brüderchen. Verstehst du den Unterschied", erwidert Simohamed, lächelnd.

"Llah ykhallik lili (Gott behüte dich für deinen kleinen Bruder)", antwortet Saïd sofort, mit dem Ausdruck eines Mannes, der für das Wohl seines Nächsten betet. "Außerdem erhebe ich hier und jetzt vor Zeugen meine Hände vor dem allmächtigen Gott, um für dich, meinen Bruder, zu beten. Möge Gott die Arbeiter segnen, all jene, die früh aufstehen und für ihre Familien sorgen. Amen. Sagt Amen, das ist ein Gebet, das seinen Wert hat."

"Amen", stimmen die Mutter und ihre beiden Kinder ein. Und die ganze kleine Familie bricht in ein verschwörerisches Lachen aus.

Diese fröhliche Atmosphäre gehörte schon immer zu dieser Familie. Halima ist eine Frau mit einem starken Charakter. Sie hat die Widrigkeiten des Lebens gemeistert, ohne zu zögern und ohne jemals zu klagen. Ob es regnet oder stürmt, sie hat immer ein strahlendes Lächeln auf den Lippen. Trotz harter Zeiten hat sie ihr Leben um ihre drei Kinder herumgeführt. Das Leben konnte von ihr nichts anhaben.

Es stimmt, dass Saïd die Schule aus einer Laune heraus verließ, Simohamed dagegen hat sein Abitur gemacht und sogar einen Bachelor-Abschluss an einer örtlichen Universität erlangt. Die kleine Schwester absolviert derweil ein Praktikum bei einem Anwalt und setzt ihr Jurastudium fort. Alles in allem ist nicht alles so schlimm. Es könnte schlimmer sein. Simohamed hatte versucht, Arbeit zu finden. Leider ohne Erfolg. Die Zeiten sind hart. Die Krise hat seine letzten Hoffnungen zunichte gemacht. Also hat er einen Weg gefunden, etwas Geld zu verdienen, indem er Fisch verkauft. Und das ist nicht schlecht. An manchen Tagen kann er bis zu dreihundert Dirham netto verdienen, steuerfrei. Das ist nicht nichts. Und da das Haus ihnen gehört, kann man sagen, dass das Leben gütig zu ihnen ist. Keine Miete zu zahlen, keine Nebenkosten. Nur das Nötigste zum Essen, Trinken, Anziehen und ab und zu einen Besuch in der Apotheke im Falle von Gesundheitsproblemen.

Halima hat ihren Kindern immer wieder gesagt, dass man sich niemals erlauben darf, krank zu werden. Kranksein ist etwas für Wohlhabende. Es ist sogar ein Luxus, den einfache Leute sich nicht leisten können. Also überzeugt man sich selbst, dass man immer gesund ist, bis zu dem Tag, an dem man stirbt. Und das funktioniert. Es braucht nur eine ordentliche Portion Autosuggestion, selbst wenn das Fieber 40 Grad erreicht. Man muss sich nur sagen, dass morgen alles gut sein wird. Dieser Fatalismus hält allen Thermometern der Welt stand. Er überzeugt sogar die Anhänger dieser Überlebensmethode, dass die Krankheit Menschen hasst, die ihr die Stirn bieten.

Zwischen Wellen und Rebellion:
Simohameds Suche nach dem Sinn und dem Geheimnis von Karima

Foto: Jason Blackeye auf unsplash.com

casablanca, Foto: You Deal auf unsplashTäglich, nach dem Verkauf der Fische, zieht Simohamed um Punkt zehn Uhr seinen Schwimmanzug an. In seinem enganliegenden schwarzen Anzug, mit Flossen an den Füßen, verrichtet er sein persönliches Gebet hinter der großen Moschee und springt dann ins Wasser. Acht Stunden lang, mit nur zwei Pausen, um einen Kleinigkeit zu essen. Ja, Simohamed beharrt darauf, ohne Unterbrechung Bahnen zu ziehen. Er betrachtet das Meer wie ein zwei Kilometer langer Pool, den er im Freistil, die Zähne zusammengebissen von der Hassan-II-Moschee bis zum Miami-Komplex durchquert.  

Während er schwimmt, wirft er immer wieder Blicke auf die Uferpromenade und ihr Gedränge. Geschäftige Menschen, Gelegenheitssportler, eine Horde von Autos, ein ganzes Leben, das ihm sehr weit weg erscheint, wie ein durch die Zeit vergilbtes Bild. Simohamed schwimmt mit Kraft und Entschlossenheit. „Ich kenne das Meer und das Meer kennt mich. Ich kann gegen die Strömung schwimmen, die Felsen und Steine ausmachen. Ich bin hier zu Hause. Das ist mein Meer.“ Acht Stunden vor der Ewigkeit. Ohne die geringste Erschöpfung, das Glück im Herzen verankert. „Ich bin ein Langstreckenläufer. Ich bin ein Bergsteiger. Ich bin ein Wellenkletterer. Ich bin genau da, wo ich sein muss.“

Seit sechs Monaten ist es jeden Tag dasselbe Ritual. Alles begann an dem Tag, als er in einer lokalen Zeitung las, dass die Behörden von Ceuta noch vor Jahresende einen Freiwasserschwimmwettbewerb im Gibraltar-Detroit organisieren. Seitdem schwimmt Simohamed wie besessen. Diese Idee stammt von einem Stadtratsmitglied. Laut dem Artikel ist dies eine menschliche und kluge Möglichkeit, den Migrationsstrom von Menschen aus dem Süden in die Länder des Nordens zu begrenzen. Anders gesagt, anstatt ein Boot zu besteigen und sein Glück zu versuchen, musst du dich einfach für den Wettbewerb anmelden und schwimmen. Wenn du es schaffst, die Straße von Gibraltar zu überqueren, heißt dich Spanien mit offenen Armen willkommen. Wenn du es nicht schaffst, wird dich die Guardia Civil auf einem Boot bergen, dir einen Orangensaft und ein Croissant geben und dich auf die marokkanische Seite der Grenze zurückbringen. Also hat Simohamed beschlossen, zu schwimmen, zu trainieren, um sein Ticket nach Europa zu gewinnen. Immer in Begleitung seines Freundes Khalid ist das Meer zu seinem Spielplatz geworden.

Khalid hingegen hat andere Sorgen, seit er von der Bewegung namens "20. Februar" der marokkanischen Medien erfahren hat. Dabei handelt es sich um eine Gruppe junger Leute, die beschlossen hatten, sich mit der Regierung anzulegen. Khalid, im zarten Alter von 21 Jahren, hat seine Berufung gefunden. Er ist der Schreihals des Wochenendes. Und er liebt es.

"Ich glaube nicht an all diese Dinge, die euch alle durcheinanderbringen. All diese Slogans lassen mich kalt, mein Bruder. Ich glaube nur an meinen Körper, der mich ans andere Ufer bringen kann. Und dort werde ich die Geschichte meiner eigenen Revolution schreiben." Simohamed verbirgt nicht seine Verachtung für diese Bewegung, die er für hohle Phrasen hält. Seit Beginn dieser sonntäglichen Auftritte billigt Simohamed nicht das Engagement seines Freundes Khalid. Er fürchtet sogar das Schlimmste. Für ihn kann das offene Auflehnen gegen die Handlanger der Politik, die die volle Macht haben, schnell zu einem Albtraum werden.

"Du glaubst nicht, dass wir das System destabilisieren können, du scheinst immer das zu verachten, was wir tun", erwidert Khalid, etwas beleidigt.

"Nein, ich glaube an dich, weil ich dich kenne. Aber für den Rest, was sich ändern muss, was sich nicht ändern kann, brauche ich mehr, um nicht mehr jeden Tag ins Wasser zu springen. Khalid, denk bloß nicht, dass ich besessen von Europa bin und einfach nur die Kulisse wechseln will. Die Wahrheit, die du so gut kennst, ist, dass ich hier an nichts mehr glaube. Ich habe jegliches Vertrauen verloren. Ich muss unbedingt etwas bewegen, etwas anderes tun, um den Rest an Würde, die ich noch besitze zu retten."

"Versuche doch einmal, mit uns zu kommen. Es sind nur junge Leute da. Wir werden es sicher bis zum Ende schaffen und alles auf den Kopf stellen. Deine Anwesenheit bedeutet mir viel", sagt Khalid, davon überzeugt, dass Simohamed ihm nie eine Absage geben könnte.

"Ich werde kommen, versprochen. Aber komm erst mit mir, ich muss sehen, wo ich mit meinem Rekord stehe. Ich muss heute 14 Kilometer schwimmen. Ich zähle auf deine Hilfe, Bruder."

"Ich bin jeden Tag hier, acht Stunden lang, um dich zu unterstützen, in den Wind zu schreien und diese Zeit für dich zu opfern, und ich weiß noch nicht einmal, ob du es schaffen wirst.“

"Simohamed, Du musst mit mir kommen und meinen Freunden zeigen, dass Du mich bedingungslos unterstützt.“

Khalid ist davon überzeugt, dass diese Bewegung die Dinge verändern wird. Die Frage ist nur, wie kann er Simohamed motivieren mitzumachen?

"Was kann ein isolierter Mann wie ich in der Menge tun?" fragt Simohamed, in Gedanken versunken.

"Eine Menge. Zuerst verstärkst du unsere Reihen. Und, allein die Tatsache, dass du dabei bist, würde mir unendliche Triebkraft verleihen. Und die anderen würden meine Energie und Begeisterung spüren. "

"Du scherzt!“

"Nein, auf keinen Fall. Komm mit Simohamed und du wirst dein Herz pochen hören. Es ist ernst, wir werden es schaffen."

"Ich zweifle nicht daran, lieber Freund."

Simohamed ist weit davon entfernt, die Welt verändern zu wollen. Er denkt häufig an Karima, seine langjährige Liebe. Er versucht zu verstehen, was zwischen ihnen passiert ist. Er will begreifen, wie Karima sich so schnell verändern konnte, dass er sie kaum mehr erkannte. Und dann ist da ihre plötzliche Entscheidung, nach Spanien zu gehen, um ihr Studium zu fortzusetzen.

Ist Karima vor ihm geflüchtet? Simohamed hat heute das Gefühl, dass Karima ihm viele Dinge verheimlicht. Das muss er klären, und zwar schnell. Simohamed möchte Khalid gerne unterstützen. Die richtigen Worte finden, um ihm Mut zu machen, schafft er heute nicht. Er schafft es noch nicht einmal siene Verzweilung zu verbergen. Zu viele Fragen sind unbeantwortet. …

Simohamed beschließt, einen Tee im örtlichen Café zu trinken und zu versuchen, Ordnung in dieses Puzzle zu bringen. Khalid möchte sich ihm anschließen. Mit einem Blick macht Simohamed ihm klar, dass das keine so gute Idee sei.

Trotz seinem acht Stunden Marathonschwimmen, findet er keine innere Ruhe.

"Ich komme am Abend zu dir nach Hause", sagt Khalid zögernd und wendet sich seinem Freund zu.

"Wann immer du willst, mein Bruder. Ich werde zu Hause sein."

Über Abdelhak Najib*
Übersetzung aus dem Französischen durch marokko.com