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Marokkos stille Kraft: Humanressourcen als Motor der Erneuerung

Der Ökonom Yassine Andaloussi beleuchtet das Paradox der Humanressourcen in Marokko: ein Land voller Talente und weiblicher Exzellenz, das sein Potenzial noch nicht vollständig strategisch nutzt. Zwischen Verwaltung und Vision entsteht die Chance, den Menschen ins Zentrum nationaler Entwicklung zu rücken.

Die Marokkanische Arbeitswelt. Foto mit Hilfe von ChatGPT erstellt

Yassine AndaloussiKaum ein Land im südlichen Mittelmeerraum investiert so kontinuierlich in Bildung und Kompetenzentwicklung wie Marokko. Doch während die Universitäten jedes Jahr Tausende von Fachkräften hervorbringen, bleibt ihre Einbindung in die strategischen Strukturen von Unternehmen und Verwaltungen erstaunlich gering. Der Personalbereich - eigentlich Herzstück wirtschaftlicher und institutioneller Transformation - verharrt oft in administrativen Routinen. Dabei entscheidet sich in seiner Modernisierung ein wesentlicher Teil der Zukunft Marokkos.

Ein Land am Scheideweg

In Marokko stehen die Humanressourcen an einem entscheidenden Wendepunkt. Zwischen einer Fülle an Hochschulabsolventen, einer ausgeprägten Feminisierung der Arbeitswelt und einer fortdauernden strategischen Unterauslastung offenbart der Sektor ein beunruhigendes Paradox.

Die Frage der Humanressourcen ist weit mehr als ein administratives Thema. Sie bildet einen zentralen Hebel wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit, institutioneller Modernisierung und organisationaler Leistungsfähigkeit. Jedes Jahr verlassen zahlreiche Absolventinnen und Absolventen die Universitäten, ausgebildet in Personalmanagement, Kompetenzentwicklung und modernen Führungspraktiken. Doch der Abstand zwischen theoretischem Potenzial und realer Verantwortung bleibt groß: Die Personalabteilungen sind meist auf Verwaltungstätigkeiten beschränkt und übernehmen selten die Rolle, die ihnen als strategischer Motor eigentlich zukommt.

Dieses Missverhältnis verweist auf ein tieferliegendes Strukturproblem. Während das Land eine beeindruckende Zahl an Talenten hervorbringt, bleibt die Fähigkeit der Organisationen, dieses Wissen in ihre Gesamtstrategie einzubinden, begrenzt. Allzu oft werden Personalabteilungen als reine Dienstleister wahrgenommen - zuständig für Gehaltsabrechnungen, Verträge und Personalakten. Diese Sichtweise schmälert ihren Einfluss erheblich, obwohl gerade sie der Schlüssel zur Erneuerung öffentlicher und privater Strukturen wäre.

Die Feminisierung als Spiegel gesellschaftlicher Ambivalenz

Der HR-Sektor in Marokko ist stark feminisiert - ein Phänomen, das zugleich Fortschritt und Widerspruch verkörpert. Frauen dominieren operative und administrative Funktionen, sichern die tägliche Funktionsfähigkeit der Strukturen, bleiben aber in den strategischen Entscheidungspositionen unterrepräsentiert.

Diese Ungleichverteilung ist weniger eine Frage des Geschlechts als eine Folge institutioneller Strukturen. Solange die Feminisierung nicht mit einer realen Beteiligung an der Entscheidungsfindung einhergeht, bleibt das Potenzial dieser Fachkräfte ungenutzt - und Marokko verzichtet auf eine seiner größten Stärken.

Von der Verwaltung zur Strategie

Das Kernproblem liegt in der begrenzten Definition der HR-Funktion selbst. Zu oft wird sie als reine Verwaltungsaufgabe verstanden, nicht als strategischer Hebel. Initiativen zur Talentförderung, Motivation oder langfristigen Personalplanung bleiben randständig.

Im öffentlichen Sektor hemmt die Bürokratie Innovation, im privaten Sektor verhindert die Wahrnehmung der HR als Kostenstelle Investitionen in nachhaltige Programme. Dabei wäre gerade eine proaktive, leistungsorientierte Personalpolitik der Schlüssel zu Modernisierung, Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltigem Wachstum.

Wege der Erneuerung

Um die vorhandenen Potenziale zu entfalten, bedarf es einer Neudefinition der HR-Aufgaben: hin zu Leistung, Strategie und Entwicklung. Personalabteilungen müssen in die Gestaltung der Gesamtstrategie eingebunden werden - mit klarer Verantwortung für Kompetenzplanung und Organisationskultur.

Auch die Ausbildung braucht ein neues Gleichgewicht zwischen Theorie und Praxis. Praktische Projekte, Mentoring und angewandtes Lernen können den Wandel vom Wissen zur Wirkung einleiten. Zugleich muss Geschlechtervielfalt in Führungspositionen gefördert werden. Nur wenn Frauen, die heute die Basis der HR-Arbeit bilden, auch in der strategischen Leitung vertreten sind, kann sich ihr Einfluss wirklich entfalten. Darüber hinaus ist eine enge Kooperation zwischen öffentlichem und privatem Sektor unerlässlich. Der Austausch von Best Practices, organisatorische Innovation und gemeinsame Kompetenzentwicklung könnten den Modernisierungsprozess des Landes entscheidend beschleunigen.

Humanressourcen als nationale Triebkraft

Die kritische Bestandsaufnahme des marokkanischen HR-Sektors offenbart ein vielschichtiges Paradox: eine Fülle an Talenten und eine starke weibliche Präsenz stehen einem begrenzten strategischen Einfluss gegenüber - verursacht durch administrative Routinen und starre Strukturen. Die Verwandlung der Humanressourcen in einen nationalen Hebel erfordert eine klare Neudefinition der Aufgaben, praxisnahe Ausbildung, echte Geschlechterdurchlässigkeit und das Bewusstsein der Entscheidungsträger für die strategische Bedeutung dieser Funktion. Erst dann kann Marokko das volle Potenzial seiner Humanressourcen entfalten, seine Wettbewerbsfähigkeit stärken, seine Institutionen modernisieren und den Weg zu nachhaltigem Wachstum ebnen. Die Humanressourcen sind längst kein bloßer Unternehmensbereich mehr - sie bilden einen der tragenden Pfeiler der nationalen Entwicklung.