Marokko im Fokus: Ein Land auf der Suche nach Erneuerung
Abdelhak Najib legt mit „Marokko und die Herausforderungen der Zukunft“ eine schonungslose Analyse vor. Sein Essay ist mehr als Kritik - es ist eine Anklage gegen strukturelle Missstände und ein leidenschaftlicher Appell für Reformen, Gerechtigkeit und eine neue gesellschaftliche Kultur der Verantwortung.
Mit seinem neuen Werk zeichnet Abdelhak Najib ein tiefgründiges und zugleich beunruhigendes Porträt der marokkanischen Gegenwart. Der Schriftsteller und Denker seziert die systemischen Fehlfunktionen des Landes mit analytischer Schärfe und fordert einen klaren Kurswechsel. Wie stets bei Najib verbindet sich Nachdenklichkeit mit Mut zur Wahrheit: Er stellt die richtigen Fragen, wo andere schweigen, und liefert Antworten auf die drängendsten Erwartungen einer Gesellschaft im Wandel.
Es ist bereits das zehnte Essay des Politologen - nach Werken wie „Marokko, welche Geschichte haben wir?“, „Die Krise der Werte“ oder „Marokko, so sei es“. Das neue Buch, erschienen bei Éditions Orion, knüpft daran und führt seine Linie gesellschaftlicher Selbstbefragung fort - mit einer seltenen Mischung aus Intellektualität, Empathie und Zorn.
Die Kapitelüberschriften sprechen für sich: „Wie Politik anders gestalten“, „Die Widerstandskraft der Marokkaner“, „Die nationalen Notwendigkeiten“, „Die Geografien der Angst“, „Die Korruption vergiftet“, „Welche Lehren aus der Vergangenheit ziehen“. Jede dieser Überschriften öffnet ein Fenster auf ein Land zwischen Aufbruch und Stillstand. Najib analysiert nicht abstrakt, sondern aus der Perspektive des Bürgers, der Antworten sucht - realistische, logische und rationale Antworten.
Gesellschaft im Ungleichgewicht
Najib zeichnet ein ambivalentes Bild Marokkos: Auf der einen Seite steht die visionäre Politik Seiner Majestät König Mohammed VI., die auf Modernisierung, Gerechtigkeit und soziale Kohäsion zielt; auf der anderen Seite die Trägheit, die Fehlentwicklungen und das strukturelle Chaos, die diese Vision ausbremsen. „In sehr fragilen Bereichen wie der Solidaritäts- und Familienpolitik hat Marokko noch viel Arbeit vor sich“, betont Najib.
Die Ungleichheiten sind tief, Frauen und Familien kämpfen gegen archaische Strukturen. Das Gesundheitssystem leidet unter Ineffizienz und Vertrauensverlust, während Raumplanung und Wohnungsbau weit hinter den Bedürfnissen der Bevölkerung zurückbleiben - das Recht auf ein würdiges Zuhause bleibt für viele ein unerfülltes Versprechen. Ebenso fordert Najib angesichts der Krise im Bildungswesen: „Manche Minister haben diese Schwächen gefördert und diesen lebenswichtigen Sektor in eine Sackgasse geführt.“ Bildung, Fundament jeder gesellschaftlichen Entwicklung, sei zum Opfer kurzsichtiger politischer Strategien geworden.
Der Autor blickt zurück auf die Entwicklungen seit 2011 - Jahre der verpassten Chancen, Fehlentscheidungen und wachsenden sozialen Frustration. Aus dieser Unzufriedenheit, so Najib, sei eine neue Generation des Protests entstanden: eine bewusste, gebildete Jugend, die den öffentlichen Raum zurückerobert und Gerechtigkeit, Würde und Perspektive einfordert.
Ein Land im Spiegel seiner eigenen Widersprüche
Seine Analyse zieht sich durch alle zentralen Lebensbereiche: Gesundheit, Bildung, Hochschulwesen, Arbeit, Wohnen, Justiz, Wirtschaft, Tourismus, Landwirtschaft, Fischerei, Kultur und Jugend. Kein Sektor bleibt ausgespart. Korruption, Vetternwirtschaft und ein erstarrtes Rentensystem hätten das Vertrauen vieler Bürger untergraben. Zahlreiche Talente und Kompetenzen blieben ungenutzt, weil sie marginalisiert oder übersehen würden. Die Folge: strukturelle Stagnation, soziale Ungleichheit, eine lähmende Perspektivlosigkeit. „Es fehlt an Qualität“, schreibt Najib, „und ohne Qualität funktioniert nichts. Diese Schwäche muss dringend behoben werden, wenn wir die Zukunft Marokkos sichern wollen.“
Sein Essay ist keine trockene Kritik, sondern eine leidenschaftlich begründete Anklage. Abdelhak Najib legt den Finger in die Wunden eines Landes, das sich neu erfinden muss. Er zeigt, wie viel auf dem Spiel steht: das Vertrauen der Bürger, die Glaubwürdigkeit der Institutionen, die Hoffnung auf eine gerechtere Zukunft.
Marokko, so macht dieses Werk deutlich, verfügt über die Ressourcen, die Kreativität und die Energie, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern - wenn es gelingt, die Kluft zwischen Vision und Umsetzung zu schließen. Najibs Stimme ist dabei keine Stimme des Pessimismus, sondern eine des Erwachens. Sie erinnert daran, dass Erneuerung nur dort möglich ist, wo Kritik nicht gefürchtet, sondern als Voraussetzung des Fortschritts verstanden wird.