Digitale Freiheit: Zwischen Schutz, Kontrolle und Verantwortung
Das digitale Leben wächst rasant, schneller als jedes Gesetz. Was früher privat war, wird mit einem Klick öffentlich. Plattformen schaffen Sichtbarkeit und Macht, aber auch Verletzlichkeit und Missbrauch. Wie lässt sich die digitale Freiheit schützen, ohne Kritik zu bestrafen? Wie kann man den Menschen würdigen, ohne den freien Austausch zwischen Bürgern zu ersticken?

Am frühen Nachmittag sitzt eine Gruppe junger Studenten in einem Café in Rabat. Draußen flutet Licht über die Avenue Mohammed V, die glänzenden Schilder der Bankfilialen, die Schaufenster der Telekom-Läden. Auf dem Tisch stehen drei Handys, ihre Displays flackern. Einer der Studenten, Yassir, wischt durch seinen Instagram-Feed. Er bleibt hängen. „Das hier ging gestern viral“, sagt er. Ein Video, drei Minuten lang, aufgenommen auf offener Straße. Ein Mann wird beschuldigt, Jugendliche betrogen zu haben. Ohne Beweise, ohne Kontext. Hunderttausende Klicks über Nacht. Yassir seufzt. „Das wird ihm nachhängen. Egal, ob es stimmt oder nicht.“ Die anderen nicken. Niemand weiß, wer das Video zuerst hochgeladen hat. Niemand weiß, wie man es wieder aus dem Netz bekommt.
Das digitale Leben breitet sich heute über eine grenzenlose Landschaft aus. Alltägliche Routinen, die früher verborgen blieben, verschmelzen mit Bildern, Nachrichten und Datenströmen. In dieser offenen Sphäre steht der Mensch sichtbarer da, als es ihm lieb ist - und geschützter als nötig ist er selten. Plattformen entwickeln sich mit einer Geschwindigkeit, die Gesetzestexte kaum einholen. So entsteht ein heikler Knotenpunkt: Wie lässt sich digitale Würde bewahren, ohne die freie Äußerung zu ersticken? Und wie verhindert man Rufschädigung, Erpressung und Desinformation, ohne jede kritische Stimme zur Straftat zu machen? Hier beginnt der eigentliche Streit um digitale Freiheit.
Der Ausgangspunkt scheint einfach: Was im physischen Leben als privater Bereich gilt, verdient denselben Schutz, wenn es auf Bildschirme wandert. Dieser Gedanke ist längst nicht nur Theorie. Die marokkanische Verfassung garantiert das Recht auf Schutz der Privatsphäre und auf Geheimhaltung von Korrespondenz und Kommunikation. Eingriffe sind nur unter klaren rechtlichen Bedingungen erlaubt und unterliegen grundsätzlich gerichtlicher Kontrolle.
Eine wichtige Neuerung brachte das Gesetz Nr. 103-13 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Durch dieses Gesetz wurden die Artikel 447-1 bis 3 in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Damit wurden Handlungen wie das Aufnehmen, Speichern oder Veröffentlichen privater Daten, Aussagen oder Bilder ohne Zustimmung unter Strafe gestellt - auch über digitale Wege. Besonders schwer wiegen diese Taten, wenn familiäre, eheliche oder hierarchische Beziehungen ausgenutzt werden oder wenn Frauen und Minderjährige betroffen sind (was im marokkanischen Strafrecht als erschwerender Umstand gewertet wird).
Diese Bestimmungen verbesserten den Schutz der Privatsphäre erheblich - vor allem gegen digitale Erpressung und das „Leaken“ (unerlaubtes Teilen privater Inhalte) privater Fotos oder Filme. Doch sie konzentrieren sich fast ausschließlich auf intime (Inhalte, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind) oder vertrauliche Inhalte (betreffen daher vor allem individuelle Privatsphäre, nicht öffentliche Diffamierung) und lassen weite Bereiche digitalen Schadens unberührt. Denn was geschieht, wenn jemand eine frei erfundene Anschuldigung postet, die den Ruf eines Arztes, einer Lehrerin oder eines Geschäftsinhabers zerstört? Hier geht es nicht um ein heimlich aufgenommenes Bild, sondern um die öffentliche Verdrehung von Tatsachen. Und genau dieser digitale Graubereich bleibt oft ohne klare gesetzliche Antwort.
Digitale Freiheit, so wie sie die Verfassung vorsieht, ist kein grenzenloses Privileg. Sie wird im Rahmen anderer Schutzrechte ausgeübt - dem Recht auf Würde, dem Recht am eigenen Bild, dem Recht auf Datenschutz (gemäß dem Gesetz 09-08 über den Schutz personenbezogener Daten). Die eigentliche Frage lautet daher nicht, ob Einschränkungen erlaubt sind, sondern wie sie formuliert werden: Sind sie präzise genug, um echte Schäden zu verhindern? Oder so vage, dass sie Kritik, Satire und unbequeme Fragen kriminalisieren?
Die aktuelle Rechtsordnung wurde vor allem für klassische Medien konzipiert. Das Pressegesetz verlangt eine klare Registrierung, einen verantwortlichen Redakteur und transparente Haftungsregeln - sinnvoll für redaktionelle Medien, aber wirkungslos gegenüber anonymen Accounts, Influencern oder Content-Produzenten ohne Impressum. Während eine Zeitung zur Gegendarstellung verpflichtet werden kann, verschwindet ein virales Fake-Video einfach im digitalen Nebel, ohne dass jemand greifbar wäre (weil Plattformen nicht als „Herausgeber“ gelten).
Die digitale Realität funktioniert anders. Heute entstehen „Eilmeldungen“ auf namenlosen Kanälen, die Panik, Empörung oder Begeisterung auslösen, noch bevor irgendjemand geprüft hat, ob sie stimmen. Plattformen fördern häufig nicht das Wahre, sondern das Aufregende. Ein Live-Stream reicht, um Menschen öffentlich zu beschuldigen, Produkte ohne Genehmigung zu bewerben oder Kampagnen für oder gegen Personen zu starten - ohne rechtliche Verantwortung.
Das Strafrecht kann manches davon verfolgen. Aber es verfügt über keine klaren Definitionen für digitale Berufsrollen. Der „Influencer“ existiert nicht als juristische Kategorie. Es gibt keinen Schwellenwert, ab dem Reichweite Verantwortung erzeugt (z. B. ab einer bestimmten Followerzahl oder kommerziellen Einnahme). Es gibt keine Pflicht zur Kennzeichnung von Werbung, obwohl digitale Inhalte längst zu einem gewaltigen kommerziellen Markt geworden sind (und die marokkanische Steuerverwaltung bereits Werbeeinnahmen über soziale Netzwerke besteuern will).
Der Entwurf des Gesetzes 22-20 sollte hier einspringen. Aber statt Vertrauen schuf er Misstrauen. Kritiker sahen darin weniger eine digitale Reform als ein potenzielles Instrument zur Einschränkung legitimer Kritik. Besonders problematisch waren Formulierungen, die „wirtschaftsschädigende Inhalte“ unter Strafe stellten, ohne präzise zu bestimmen, was damit gemeint ist. Die Gefahr, berechtigte Boykotte, Enthüllungen oder zivilen Protest zu kriminalisieren, war real (und wurde von zivilgesellschaftlichen Gruppen, Anwälten und Journalistenverbänden öffentlich thematisiert).
Dennoch enthielt derselbe Entwurf brauchbare Ansätze: Verpflichtende Transparenz bei kommerziellen Inhalten, Begrenzung unkontrollierter Produktwerbung, Schutz Minderjähriger, strafbare Nutzung gefälschter Accounts zu Erpressungszwecken und klare Fristen für Plattformen, schädliche Inhalte zu löschen. Die Herausforderung besteht nicht darin, ein Gesetz zu verabschieden, sondern es richtig zu formulieren: präzise gegen echten digitalen Schaden, ohne Werkzeuge zur Zensur zu liefern.
Die Lücken sind offensichtlich. Es fehlt eine rechtliche Definition für digitale Akteure, deren Einfluss messbar und monetarisierbar ist. Es gibt keinen Mechanismus, der verhindert, dass Falschinformationen berufliche Existenzen zerstören. Die Kennzeichnung kommerzieller Inhalte ist nicht Pflicht (obwohl viele Influencer unregulierten Werbemarkt betreiben). Und die Entfernung schädlicher Inhalte erfolgt oft zu langsam, sodass der Schaden längst entstanden ist, bevor ein Verfahren beginnt (in manchen Fällen wird nie ermittelt, weil keine klare Zuständigkeit besteht).
Der Weg zu einer modernen digitalen Gesetzgebung führt über klare Begriffe und schnelle Verfahren: Schutz der Privatsphäre, aber auch Schutz der beruflichen Reputation; Veröffentlichung von Fakten, aber Haftung für wissentlich falsche Behauptungen; Freiheit der Rede, aber Verantwortung bei nachweisbarem Schaden. Dringend erforderlich ist zudem der Schutz von Kindern vor kommerzieller Ausbeutung im Netz - in Videoformaten, Familienkanälen oder Werbekampagnen, die Minderjährige unkontrolliert instrumentalisieren (hier wären spezielle Statuten vergleichbar mit europäischen „child influencer laws“ sinnvoll).
Am Ende geht es nicht um Kontrolle digitaler Räume, sondern um die Sicherung eines fairen Gleichgewichts zwischen Ausdruck und Verantwortung. Digitale Freiheit heißt nicht Enthemmung ohne Folgen, sondern Schutz des Menschen in einem Raum, der sich nicht von selbst reguliert.
Marokko vs. Deutschland
Ein Vergleich mit Deutschland zeigt, wie unterschiedlich digitale Räume reguliert werden können. Während Deutschland über spezifische Gesetze verfügt - das Netzwerkdurchsetzungsgesetz mit klaren Löschfristen, die Datenschutzgrundverordnung, Wettbewerbsrecht zur Kennzeichnung von Werbung, Medienrecht und Jugendschutz -, basieren entsprechende Vorgänge in Marokko noch überwiegend auf allgemeinen Strafnormen, die nicht speziell auf digitale Sachverhalte zugeschnitten sind.
In Deutschland sind Plattformen haftbar, wenn sie rechtswidrige Inhalte nicht zeitnah entfernen, während in Marokko weder Löschfristen noch eindeutige Haftungsregeln existieren. Influencer müssen in Deutschland Werbung klar kennzeichnen, während in Marokko in der Praxis kaum verbindliche Regulierungen bestehen. Und während Deutschland umfassende Strukturen zum Schutz Minderjähriger im digitalen Raum aufgebaut hat, fehlt ein solches Schutzsystem in Marokko weitgehend (auch wenn Diskussionen darüber in Ministerien laufend geführt werden).
Marokko steht somit am Beginn einer notwendigen digitalen Transformation des Rechts. Deutschland befindet sich in der fortlaufenden Anpassung, mit allen Schwierigkeiten und Debatten, die digitale Regulierungen mit sich bringen. Aber eines gilt für beide Gesellschaften: Digitale Freiheit ist kein fixer Zustand, sondern ein fortwährender Prozess, der klare Definitionen, transparente Regeln und faire Verfahren voraussetzt.